Da der Winter 2021/22 in den Alpen miserabel war und die Berge bis weit hinauf grün, machten wir uns auf die Suche nach anderen europäischen Gebirgen mit Skitourenpotenzial. Corona und der Kriegsausbruch in der Ukraine ließen das ursprüngliche Ziel, die rumänischen Karpaten, eher als schlechte Wahl erscheinen. Nachdem ein paar Webcams in den Abruzzen gecheckt waren und die Bilder zumindest relativ weiß aussahen, setzten wir uns ins Auto und brachen auf gen Süden. Wer mit Blick aufs Meer Skifahren kann, sollte ja auch schlechtere Schneeverhältnisse in Kauf nehmen können… Als wir den Fuß der Majella-Gruppe erreichen, bietet sich ein vielversprechender Anblick: Dimensionen wie ein Hochgebirge – und tief verschneite Hänge bis in niedrige Lagen. Die erste Station ist der hübsche Ort Rocca di Calascio am Rand des riesigen Campo Imperatore, einer Hochebene auf rund 1700 Metern, die einen beträchtlichen Teil des Corno-Grande-Massivs ausmacht.
Die Paradeskitour der Gegend ist der Monte Camicia mit seiner durchgehenden Südwestflanke, die schon von Weitem wie ein idealer Skiberg aussieht. Nach stimmungsvollem Anmarsch über die Hochebene geht es in großen Kehren die Flanke hinauf auf den Gipfel, wo sich ein grandioses Panorama öffnet. Bis nach Pescara und zur Adriaküste reicht der Blick. Die ebenfalls gut eingeschneiten umliegenden Gebirgsgruppen der Majella und der Monti Sibillini sind durch tiefer gelegene Täler vom Gebirgszug des Corno Grande getrennt und geben so der Aussicht eine unglaubliche Weite.
Da eine Kälteperiode frischen Schnee gebracht hatte, bietet der Gipfelhang Frühlingspowder – allerdings von sehr spezieller Qualität. Irgendwie pulvrig, aber doch von dichter Konsistenz, so dass die Bretter richtig Zug haben. Wir sind baff und schon am ersten Tag einig, dass wir durch so einen Schnee noch nie gefahren sind. Der Gegend entsprechend taufen wir ihn „Mascarpone-Schnee“. Weitere Gipfel nebenan versprechen großartige Routen, jedoch scheinen die Anmärsche über den weitläufigen Campo Imperatore für Tagestouren sehr lang. Bei der Planung für die nächsten Tage fällt uns auf, dass je nach Schneelage und Straßenzustand die Tourenstartpunkte nur schwer zu erreichen sind. Ein geländetaugliches Fahrzeug wäre hier und da von Vorteil, manchmal ist die Straße aber auch schlichtweg nicht geräumt. Und dann steht ein langer Talhatscher an …
Die Landschaft hier kommt uns immer wieder bekannt vor, wild und irgendwie amerikanisch. Könnte das nicht Kalifornien sein? Dann dämmert uns, dass die bekannten Spaghetti-Western hier gedreht wurden, was eine kurze Google-Recherche bestätigt. Unter anderem war der Campo Imperatore Schauplatz des Films „Vier Fäuste für ein Halleluja“. Ab da vermuten wir hinter jedem Busch ein paar Banditen oder gleich Terence Hill und Bud Spencer, wie sie durch die „italienische“ Prärie reiten und ein paar Fieslinge verkloppen. Es ist klar, was als Abendunterhaltung angesetzt wird. Jedoch stellen wir schnell fest, dass die Witze und Sprüche, die uns als Kinder noch haben umfallen lassen vor Lachen, eigentlich reichlich flach sind. Nach dem ausgefüllten Tourentag wiegt einen der seichte Unterhaltungswert dieses Streifens immerhin schnell in den Schlaf. Die Besteigung des höchsten Berges der Region ist natürlich ein Muss. Ziemlich abweisend und steil wirkt jedoch die Direttissima durch die Südflanke des mächtigen Massivs. Da allerdings von der Seilbahnstation einfach zu erreichen, findet sich eine gut ausgetretene Trittspur auf den fast dreitausend Meter hohen Corno Grande. Hier treffen wir neben einigen Ski-Alpinisti auch auf ein paar Bergsteiger*innen, die den Gipfel zu Fuß in Angriff nehmen.
Wir entschließen uns jedoch, nicht die steile Südflanke abzufahren, sondern nach Norden, um in einer Rundtour wieder zurück zum Ausgangspunkt zu gelangen. Auf dieser Route sind wir wieder völlig allein und haben die wunderbaren Firnhänge ganz für uns. Dass zur Talstation der Gondel die Ski noch ein bisschen getragen werden müssen, ist nicht weiter schlimm, wissen wir doch von unserer Erkundungstour am Vortag, dass dort ein kleiner Imbiss mit leckeren Panini und kaltem Bier auf uns wartet.
Vor dem Aufbruch Richtung Abruzzen hatten wir noch gewitzelt: Sollte es an Schnee mangeln, so hätten wir doch zumindest kulinarisch gesehen eine gute Entscheidung getroffen – was sich bewahrheitet: Alpinismus und Kulinarik ergänzen sich hier bestens. Schon allein die Möglichkeit, nach der Tour in der Sonne Pizza und Bier zu genießen und in sympathischen Bars einen Espresso zu trinken, ergänzt sich sehr gut mit dem Sportprogramm. Gar nicht zu reden von den wunderbaren typischen Pastagerichten der Region wie Spaghetti alla Chitarra, mit Amatriciana-Sauce. Die Restaurants in L’Aquila, aber auch in anderen kleinen Orten lassen keinen Wunsch offen.
Als wir für eine Tagestour in die benachbarte Gebirgsgruppe der Majella aufbrechen, bestätigt sich, was sich vom Gipfel des Monte Camicia wie auch in der Anfahrt schon erahnen ließ. Hier liegt auch in niedrigeren Lagen sehr viel Schnee, eine typische Staulage von Osten über die Adria hat hier richtig abgeladen.
Der Monte Amaro bietet sich mit seiner durchgehend steilen Nordabfahrt als erste Wahl an. Vom Gipfel hat man einen unglaublichen Rundblick bis ans Meer und das ikonische Gipfelbiwak sieht aus wie eine Raumstation. Höchst vergnügt fahren wir die weiten Hänge hinab. Allerdings hat sich inzwischen der Mascarpone-Pulver in klassischen Firn umgewandelt, der ein gutes Timing verlangt. Die starke südliche Sonne sorgt dafür, dass auch Nordhänge schon im Februar und März gegen Mittag auffirnen.
Da sich eine Warmfront mit Regen bis auf die Gipfel ankündigt, wird die Reise mit einem Besuch in Rom abgerundet. Um die Jahreszeit ist hier wenig los und wir können die Sehenswürdigkeiten in Ruhe erkunden. Die Wuseligkeit Roms ist ein schöner Kontrast zur nicht weit entfernten Bergwelt. Und wo sonst kann man den Besuch einer Stadt mit solch südlichem Flair mit ein paar Skitouren verbinden?