Der aktuelle Lawinenlagebericht ist die zentrale Informationsquelle für Auswahl und Planung einer Skitour. Neben der Gefahrenstufe als erstem groben Indikator zur Lawinengefahr enthält der Lawinenlagebericht zusätzliche Informationen, welche die Gefahrensituation detailliert beschreiben:
Ist die Lawinengefahr tageszeitlich oder bezüglich der Höhe geteilt?
Welche der fünf Lawinenprobleme gilt es zu beachten?
Wo befinden sich Gefahrenstellen (Höhe, Exposition, Steilheit & Geländeform)?
Selbst bei geringem lawinenkundlichen Wissen lassen sich aus dem Lawinenlagebericht mit einfachen Verfahren (z.B. Reduktionsmethode, Snowcard) klare Verhaltensempfehlungen für die Tourenauswahl ableiten, wie zum Beispiel bei Stufe 3 keine Hänge steiler als 30 Grad zu betreten. Wer über größeres lawinenkundliches Wissen verfügt, dem ermöglichen die Zusatzinformationen eine differenziertere Tourenplanung, was (abhängig von der Gefahrensituation) auch bei Stufe 3 das Betreten bestimmter Steilhänge ermöglicht.
Eine sinnvolle Strategie zur Vermeidung eines Lawinenunfalls beinhaltet eine gute Tourenplanung, die die Identifikation von Gefahrenstellen und ein angemessenes Verhalten an diesen Gefahrenstellen im Gelände umfasst. Hierzu liefert der Lawinenlagebericht die relevanten Informationsgrundlagen. Da der Lawinenlagebericht jedoch die Verhältnisse für eine größere Region zusammenfasst, muss er im Gelände durch eigene Beobachtungen ergänzt werden, um an einer konkreten Gefahrenstelle eine gute Entscheidung fällen zu können. Alle von uns befragten 112 Skitourengruppen kannten den Lawinenlagebericht als Entscheidungshilfe zur Beurteilung der Lawinengefahr und alle bis auf eine Gruppe gaben an, dass die Verwendung des Lawinenlageberichts ihre Standardmethode zur Beurteilung der Lawinengefahr sei (s. DAV Panorama 1/2023).
Soweit zur großen Bedeutsamkeit des Lawinenlageberichts für die Durchführung von Skitouren. Aber wie gut kennen Skitourengruppen den aktuellen Lawinenlagebericht tatsächlich? Sind sowohl die Gefahrenstufe als auch die Zusatzinformationen bekannt? Und gibt es Gruppentypen, die den Lawinenlagebericht besser kennen als andere?
Hohe Kenntnis der Gefahrenstufe
Je gefährlicher, desto eher kennen Gruppen die Gefahrenstufe
Nach Abschluss ihrer Tour konnten von den 112 insgesamt befragten Skitourengruppen noch 86 Gruppen unter anderem zu ihren Kenntnissen des aktuellen regionalen Lawinenlageberichts befragt werden. Knapp 91 Prozent dieser Gruppen kannten die korrekte Gefahrenstufe. Ferner nahm die Kenntnis der Gefahrenstufe mit der Höhe der aktuellen Gefahrenstufe zu. Wenn es gefährlicher war, wussten Gruppen besser, welche Gefahrenstufe der Lawinenlagebericht angab (83 % bei Stufe 1, 86 % bei Stufe 2, 97 % bei Stufe 3, siehe Abb. 1). Im Vergleich zu früheren Studien (Schwiersch et al., 2005: 66 %, Procter et al., 2014: 53 %) ist somit die Kenntnis der aktuellen Gefahrenstufe größer geworden. Dies ist ein erfreuliches Ergebnis.
Etwas geringere, aber noch hohe Kenntnis der Teilung der Gefahrenstufe und Lawinenprobleme
Knapp zwei Drittel der Gruppen kannten im Schnitt diese Informationen
Neben der Gefahrenstufe beinhaltet der Lawinenlagebericht eine mögliche Teilung der Gefahrenstufe in eine niedrigere und eine höhere Stufe. Die Teilung kann sich richten nach Höhenlage (z.B. oberhalb der Waldgrenze oder einer bestimmten Höhe) oder Tageszeit (ganztägig vs. mit Tagesgang). Zusätzlich berichtet der Lawinenlagebericht die der Lawinengefahr zugrunde liegenden Lawinenprobleme (Neuschnee, Triebschnee, Altschnee, Nassschnee, Gleitschnee, s. Abb. 3).
Die befragten Gruppen kannten zu 80 Prozent die Teilungskriterien des aktuellen Lawinenlageberichts und zu 64 Prozent die genannten Lawinenprobleme vollständig. Ähnlich wie bei der Kenntnis der Lawinenwarnstufe nahm auch bei diesen beiden Zusatzinformationen die Kenntnis mit der Gefahrenstufe tendenziell zu (s. Abb. 1). Die Teilungskriterien waren bei Gefahrenstufe 3 also genauso umfassend bekannt wie die Gefahrenstufe selbst. Die vorherrschenden Lawinenprobleme waren zwar weniger bekannt als die gültigen Gefahrenstufen, bei Gefahrenstufe 3 konnten aber immerhin rund drei Viertel der befragten Gruppen die Lawinenprobleme korrekt benennen.
Kenntnis der Gefahrenstellen unbefriedigend
Die Kenntnis der Gefahrenstellen ist gering und nimmt mit zunehmender Gefahrenstufe ab
Im Lawinenlagebericht werden schließlich auch spezifische Gefahrenstellen genannt, nämlich unterschieden nach Höhe (z.B. in den Hochlagen, über der Waldgrenze), Exposition (z.B. alle Expositionen, Hänge im Nordsektor), Geländeform (z.B. Rinnen, Mulden, Kammnähe) sowie teilweise auch die Steilheit (z.B. Steilhänge). Diese Zusatzinformationen sollten schon bei der Tourenplanung zu einer Identifizierung von möglichen Gefahrenstellen im Gelände und zu einer entsprechenden Tourenauswahl bzw. Planung des Routenverlaufes führen. Auf Tour selbst helfen diese Informationen dann, tatsächliche Gefahrenstellen zu erkennen, um sein Verhalten entsprechend anzupassen (z.B. Gehen mit Entlastungsabständen, Umgehen, Vermeiden). Die Kenntnis der Gefahrenstellen ist also entscheidend für eine differenzierte Tourenplanung und -durchführung. Dies trifft umso mehr zu, je höher die Gefahrenstufe ist, da mit einer höheren Gefahrenstufe auch die Häufigkeit und der Umfang potenzieller Auslösebereiche und damit Anzahl und Größe möglicher Lawinen zunehmen.
Entgegen der Bedeutsamkeit dieser Informationen zu den Gefahrenstellen waren sie den befragten Gruppen nur wenig geläufig. Über alle Gefahrenstufen hinweg waren die Informationen zur Exposition mit 51 Prozent noch am bekanntesten. Weniger bekannt waren die Informationen zur Höhe mit 43 Prozent, der Geländeform mit 40 Prozent und der Steilheit mit 25 Prozent. Noch problematischer werden die Wissenslücken, wenn man die vollständige Kenntnis der Informationen zu den Gefahrenstellen getrennt nach Gefahrenstufen betrachtet (s. Abb. 2). Dabei zeigte sich eine deutliche Abnahme der Kenntnis von Stufe 2 zu Stufe 3.
Die Abnahme der Kenntnis der Gefahrenstellen bei höherer Gefahrenstufe wäre vielleicht dann akzeptabel, wenn die Skitourengruppen bei Stufe 3 deswegen weniger genau den Lawinenlagebericht kennen, weil sie ihre Touren bei Stufe 3 grundsätzlich sehr defensiv auswählen und nur Touren mit einem geringen Risikopotential (d.h. keinen oder wenigen Gefahrenstellen) begehen und sich an den Gefahrenstellen auch angemessen verhalten. Dies war allerdings nicht der Fall: Das Risikopotential der begangenen Touren nahm von Stufe 2 zu Stufe 3 zu (von 5,71 auf 7,16; mögliche Werte: 0-16) und das angemessene Verhalten an den passierten Gefahrenstellen nahm hingegen ab (von 7,31 auf 6,08; mögliche Werte: 0-14). Das heißt, die Gruppen begaben sich bei Stufe 3 in gefährlicheres Gelände und verhielten sich weniger angemessen, kannten aber gleichzeitig relevante Informationen zu diesen Gefahrenstellen weniger gut. Dies ist verwunderlich, weil die Studie auch hervorbrachte, dass die Gruppen ihre Touren vor allem aufgrund der Lawinensituation ausgewählt hatten (s. Panorama 6/22).
Kein Zusammenhang zwischen Kenntnis des Lawinenlageberichts und Risikoverhalten!
Auch wenn die Gruppen bei Gefahrenstufe 3 im Vergleich zu Stufe 2 Touren mit höherem Risikopotential begingen und sich an Gefahrenstellen im Gelände weniger angemessen verhielten, stand dies in keinem Zusammenhang mit ihrer Kenntnis des Lawinenlageberichts. Auch andere Variablen des Risikoverhaltens wie die passierten Gefahrenstellen oder die selbsteingeschätzte Risikobereitschaft der Gruppen zeigten keine statistisch gesicherten Zusammenhänge mit der Kenntnis des Lawinenlageberichts.
Tipps
Für weniger Erfahrene oder alle, bei denen eine Lawinenausbildung schon länger zurückliegt, kann das Befolgen von einfachen Faustregeln das Risiko von Lawinenauslösungen deutlich reduzieren. Hier eine kleine Auswahl (nicht vollständig):
Je höher die Gefahrenstufe, desto mehr Hänge sind leichter auslösbar und desto größer sind Auslaufbereiche.
Vorsicht bei Hängen > 30°, die in der Kernzone laut LLB liegen (eingefärbte Rosette im LLB). Hier passieren die meisten Unfälle!
Je steiler ein Hang, desto höher ist die Gefahr einer Lawinenauslösung.
Bei schlechter Sicht ist die Gefahrenbeurteilung und die Orientierung erschwert – Verzicht ist hier Gebot der Stunde.
Das Vorhandensein von Alarmzeichen wie frische Schneebrettlawinen, sich fortpflanzende Risse beim Betreten der Schneedecke („shooting cracks“) sowie Wumm-Geräusche bedeutet eine hohe Auslösegefahr in ähnlichen Hängen!
Spuren und Lawinenproblem(e): Flächig verspurte Hange sind beim Neu- und Triebschneeproblem weniger gefährlich. Beim Altschnee- sowie Nassschnee- und Gleitschneeproblem hat das Vorhandensein von Spuren wenig (Altschnee) bzw. keine (Nass- und Gleitschnee) Aussagekraft bezüglich der Auslösebereitschaft!
Welche Gruppen kennen den Lawinenlagebericht besser?
Wie auch in der ersten Skitourenstudie der DAV-Sicherheitsforschung (Schwiersch et al., 2005) konnten wir auch in dieser Studie keine eindeutigen Gruppenvariablen (z.B. Gruppengröße, Ausbildungsgrad, Skitourenerfahrung, Tourenhäufigkeit oder Wohnortnähe) finden, die mit einer besseren Kenntnis des Lawinenlageberichts zusammenhingen. Es ergab sich kein einheitliches Bild, womit sich erneut bisherige Auswertungen bestätigten: Skitourengruppen sind zwar ausgesprochen unterschiedlich, ähneln sich aber in ihrer Herangehensweise. Allgemeine Annahmen wie „gut ausgebildete Gruppen kennen auch den Lawinenlagebericht“ oder „Unerfahrene kennen nur die Gefahrenstufe, aber nicht die Zusatzinformationen“ bestätigten sich nicht.
Ein paar Zusammenhänge zwischen Gruppenvariablen und der Kenntnis des Lawinenlageberichts konnten dennoch gefunden werden. So scheinen größere Gruppen den Lawinenlagebericht tendenziell besser zu kennen, was die Annahme „mehr Personen wissen mehr“ stützt. Gruppen, die angaben, häufig gemeinsam unterwegs zu sein, hatten eher weniger detaillierte Kenntnisse des Lawinenlageberichts als Gruppen, die bisher wenig oder noch nie gemeinsam auf Tour waren. Dies passt zu der Vermutung, dass „unter Bekannten“ eine gewisse Sorglosigkeit bezüglich der Auseinandersetzung mit den aktuellen Bedingungen in der Tourenplanung besteht. Bezüglich der Kenntnis der im Lawinenlagebericht genannten Gefahrenstellen Höhe und Exposition bestand ein Zusammenhang mit der Selbsteinschätzung der Beurteilung von Lawinengefahren. Das heißt, dass die Wahrnehmung der Gruppen bezüglich ihrer eigenen Kompetenz in der Beurteilung von Lawinengefahren mit der Detailgenauigkeit ihres Wissens über die Zusatzinformationen zur Höhe und zur Exposition im aktuellen Lawinenlagebericht übereinstimmte.
Fazit: Hohe Bekanntheit der Gefahrenstufe, aber bei den Zusatzinformationen ist Luft nach oben!
Der Lawinenlagebericht ist die zentrale Informationsquelle für die Planung und Durchführung von Skitouren. Umso erfreulicher ist die nahezu hundertprozentige Angabe der Skitourengruppen, den Lawinenlagebericht als Standardmethode zur Beurteilung der Lawinengefahr zu verwenden. In der praktischen Umsetzung ist hier aber noch Luft nach oben. So ist zwar die Kenntnis der Gefahrenstufe noch weit verbreitet. Bei der Kenntnis der Zusatzinformationen und hierbei insbesondere der Informationen zu den Gefahrenstellen taten sich aber erhebliche Wissenslücken auf.
Folgerungen für die Praxis
Um gerade bei kritischen Lawinensituationen potenziell gefährliche Geländebereiche zu vermeiden, genügt es in der Regel nicht, nur die Gefahrenstufe zu kennen. Um Gefahrenstellen identifizieren zu können, müssen auch die Zusatzinformationen des Lawinenlageberichts gelesen, verstanden und bei der Tourenplanung auf die Karte übertragen werden. Auch wenn diese Umsetzung mittlerweile auf Portalen wie skitourenguru.ch digitalisiert erfolgt, braucht es das Wissen zu den aktuellen Verhältnissen und die entsprechende Übertragung ins Gelände, um eigenverantwortlich zu guten Entscheidungen kommen zu können. Anekdotisch können wir von einer Gruppe von frischgebackenen Trainer*innen C Skibergsteigen berichten, die den Lawinenlagebericht perfekt parat hatte und die wesentlichen Gefahrenstellen auf der Karte und im Gelände identifizieren konnte – Ausbildung wirkt also.
Literatur
Procter, E., Strapazzon, G., Dal Cappello, T., Castlunger, L., Staffler, H. P. & Brugger, H. (2014). Adherence of backcountry winter recreationists to avalanche prevention and safety practices in northern Italy. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 24(5), 823-829.
Schwiersch, M., Stopper, D. & Bach, T. (2005). Verstehen Skitourengeher den Lawinenlagebericht? Bergundsteigen, (53), 30-33.