Der Monte Cevedale in der Ortlergruppe ist einer der beliebtesten Skigipfel der Ostalpen. Seine Nachbarn werden hingegen leicht übersehen. Dabei begeistern viele Berge über dem Ulten-, Martell- und Suldental mit großartigen Hängen und Einsamkeit.
Der April ist der neue Mai. Auf den Wiesen im Ultental zeigen sich die ersten Krokusse, Vögel zwitschern, die warme Morgensonne strahlt vom blauen Himmel und die Wege sind staubtrocken. Eigentlich sollte die Skitourensaison auf den Dreitausendern der Ortlergruppe jetzt ihrem Höhepunkt zusteuern. Doch der schneearme Winter 2022/23 hat auf der Alpensüdseite Spuren hinterlassen. „Im Grunde ist bei uns die komplette Skitourensaison ausgefallen“, stellt die Familie Bertagnolli/ Vicenzi vom Ultnerhof in St. Gertraud nüchtern fest. Normalerweise dürfen sie den ganzen Winter über Skitourengruppen im Hotel begrüßen, doch diesmal gab es nur Stornierungen. Auf den ersten Blick sind die Verhältnisse wirklich mager, doch wir sind optimistisch und starten zu einer Runde zwischen Ulten, Martell und Sulden. Auf dem Programm stehen neben dem Skitourenklassiker Monte Cevedale eher unbekannte, wenngleich unübersehbare Dreitausender am Rand der Ortler- Alpen, zu denen es im Internet kaum Beschreibungen gibt.
Allein, allein: Auf dem Gipfel des Hasenöhrls.Foto: Stefan Herbke
Über der Hinteren Flatschbergalm zeigt sich das Kleine Hasenohr.Foto: Stefan Herbke
Start der großartigen Nordabfahrt vom Hasenöhrl mit Blick ins Vinschgau.Foto: Stefan Herbke
Aufstieg zum Schöntaufjoch unter der Pederspitze, von dort führt eine Freeridevariante nach Sulden.Foto: Stefan Herbke
Auf dem Weg zur Plattenspitze mit ihren XXL-Südhängen.Foto: Stefan Herbke
Anstieg zur Plattenspitze mit Blick Richtung Zufrittspitze (li.) und dem Übergang zurück ins Ultental.Foto: Stefan Herbke
Die letzten Meter zur Suldenspitze, im Hintergrund der Cevedale.Foto: Stefan Herbke
Am Gipfel der Suldenspitze, im Hintergrund Königspitze und Ortler.Foto: Stefan Herbke
Immer wieder schön: Der Anstieg über den Suldenferner auf die Suldenspitze.Foto: Stefan Herbke
Blick von der Zufallspitze auf die Schneepyramide des Cevedale.Foto: Stefan Herbke
Bei guten Verhältnissen geht’s mit Ski bis zum Gipfelkreuz des 3769 Meter hohen Cevedale.Foto: Stefan Herbke
Auf der Suldenspitze zeigt sich der weitere Anstieg zum Cevedale.Foto: Stefan Herbke
Blickfang über dem Suldenferner ist die Königspitze.Foto: Stefan Herbke
Beliebter Stützpunkt: Zufallhütte.Foto: Stefan Herbke
Gemütliches Dreibettzimmer auf der Zufallhütte.Foto: Stefan Herbke
Beim Anstieg auf die Marmotta begeistert der Blick auf die großen Gletscher unter der Zufallspitze.Foto: Stefan Herbke
Am Gipfelkreuz auf der Cima Marmotta.Foto: Stefan Herbke
Auf jeder Etappe wie hier beim Übergang vom Martell- ins Ultental zeigt sich die Königspitze.Foto: Stefan Herbke
Blick auf Königspitze, Monte Zebrù und Ortler beim Anstieg unter der Zufrittspitze.Foto: Stefan Herbke
Beeren statt Kühe: Das Martelltal ist bekannt für seine Erdbeeren.Foto: Stefan Herbke
Flatschbergtal auf das 3257 Meter hohe Hasenöhrl. Eine großartige, abwechslungsreiche Tour, die auch mit der Abfahrt zurück ins Ultental begeistern würde. Doch wir wollen nach Norden abfahren, um so ins Martelltal zu wechseln. Der Anstieg führt mit Blick auf die Pyramide des Kleinen Hasenohr an den Flatschbergalmen vorbei bequem taleinwärts – normalerweise ein gemütlicher Auftakt mit sanft ansteigender Fellspur, diesmal eine lange Wanderung in absoluter Einsamkeit mit den Ski am Rucksack. Schließlich geht es deutlich steiler auf die Böden der Rossalm und über den Verbindungskamm zum Gipfel des Hasenöhrl. Der Blick auf die schneearme Umgebung ist traurig, umwerfend dagegen die Aussicht nach Norden über das Vinschgau zum Alpenhauptkamm. Wie Leuchttürme ragen in der Ferne Cevedale, Königspitze und Ortler auf.
Im Nahbereich fokussieren wir uns auf die gewaltigen Nord- und Nordwesthänge, um die perfekte Linie durch das stark kupierte, unbekannte Gelände zu finden. Wir halten uns Richtung Nordwest und folgen einer Rampe mit einigen Mulden hinüber ins Großbodenkar. Dort begeistern weite Hänge, die schier endlos hinunter zur Waldgrenze und zur Morterer Alm führen.
Ab hier könnte man bei einer besseren Auflage einfach über den Forstweg ins Martelltal düsen, wir mogeln uns dagegen auf Schneeresten noch ein paar Meter weiter und müssen den Rest des Weges laufen – genug Zeit, um den trotz Schneemangel großartigen Tag Revue passieren zu lassen. Knapp 70.000 Nächtigungen im Jahr zählt man im Martelltal, für Südtiroler Verhältnisse ein Klacks. „Für mich hat Martell viel Potenzial“, wirbt Erika Mair vom Hotel Waldheim für ihre Heimat, „es wirkt zwar zum Teil verschlafen, doch die Leute haben viel gemacht.“ Einige waren sogar richtig innovativ. Mitte der 1960er Jahre stieg man auf den ersten Bauernhöfen von der Viehwirtschaft auf Obstanbau um, da die Familien nicht vom Milchverkauf leben konnten. „Mein Onkel meinte damals, das mit den Tieren lassen wir“, erinnert sich Erika Mair. „Für meinen Großvater war das ganz schlimm, das war ein echter Kulturschock – auf einmal waren die Ställe leer und statt grüner Wiesen gab es Erdbeerfelder.“
So individuell wie die Erdbeeren sind auch die Skitouren über dem Martelltal. Hauptanziehungspunkt sind die fast immer gespurten Klassiker rund um Zufall- und Marteller Hütte, auf denen die Skisaison locker bis in den Mai, in manchen Jahren sogar bis Anfang Juni dauert. Doch auf dem sonst brechend vollen Parkplatz am Start der Touren herrscht eine fast gespenstische Ruhe. Und so sind wir nicht weiter überrascht, als wir beim Anstieg auf die Plattenspitze erneut komplett allein unterwegs sind – und spuren müssen. Ein Hauch Neuschnee kaschiert die schlechte Schneelage und verdeckt tückisch die vielen Steine. Stolze 3422 Meter misst der Gipfel und ist dennoch über die Südseite komplett gletscherfrei zu besteigen. Eine kurzweilige Tour, bei der man seine Spur fast schon beliebig in die weitläufigen Hänge legen kann.
Die Freude über den Blick auf die nahe Königspitze wird allerdings beim Scannen der Nordseite des Gipfelkammes schnell getrübt. Normalerweise fährt man hier auf einer kurzen Rampe steil zum Gletscher und durch das großartige Rosimtal nach Sulden ab. Doch die Nordflanke präsentiert sich komplett schneefrei, ein Abstieg über steilen Schotter und abwärts geschichtete Felsplatten wäre viel zu gefährlich. Statt der geplanten Traumabfahrt geht es daher schweren Herzens zurück ins Martelltal – bei dieser Schneelage alles andere als ein Vergnügen.
Der Klimawandel sorgt dafür, dass im hochalpinen Gelände Flexibilität bei der Routenwahl gefragt ist. Das zeigt sich auch am nächsten Tag beim Anstieg durch das wunderschöne, beschauliche Madritschtal – selbst bei diesen mageren Schneeverhältnissen ein Genuss. Doch auch der Plan, über das Schöntaufjoch auf einer Freeridevariante ins Rosimtal abzufahren, scheitert – statt Schnee erwarten uns bei der steilen Einfahrt in die nordseitige Rinne Schotter und Felsen. Und so queren wir auf dem Sommerweg, teilweise zu Fuß, hinüber zum Madritschjoch und ins Skigebiet, um Sulden sicher zu erreichen. Das Bergdorf am Fuß von Ortler, Zebru und Königspitze ist mehr eine Hotelstation und bekannt für sein schneesicheres Skigebiet. Die Lifte erleichtern auch den Zustieg für diverse Skitouren und verkürzen die dritte Etappe über die Suldenspitze auf den Monte Cevedale, einen der höchsten Skigipfel der Ostalpen.
Faszinierend ist bereits der Anstieg über den Suldenferner, dessen gleißend weiße Nordhänge zum Skifahren geradezu einladen. In schneearmen Wintern zeigt sich dagegen ein Spaltenlabyrinth, über das man seine Spur mit Bedacht ziehen muss. Eine kurze Abfahrt führt zur Casatihütte, ehe man über die sanften Dünen des Langenferners den Cevedale ansteuert. Hier steht man im Zentrum der Ortlergruppe und genießt einen 360-Grad-Rundblick auf das gewaltige Skitourenangebot – ganz großes Kino!
Die Abfahrt führt zur Zufallhütte im Martelltal. Bewirtschaftet wird die in den Jahren 2021 und 2022 aufwendig umgebaute und sanierte Hütte von Ulrich Müller, der auf einem Bauernhof aufgewachsen ist und später als Agraringenieur im Obstbau arbeitete. „Ich habe meinen Job wirklich mit Herzblut gemacht“, erinnert sich Ulrich, „aber irgendwann wusste ich, dass es Zeit für eine Veränderung war.“ Bereut hat er die vor zwanzig Jahren getroffene Entscheidung nie.
Neben dem Cevedale mit der benachbarten Zufallspitze steht vor allem die Cima Marmotta auf dem Wunschzettel seiner Gäste ganz weit oben. Der auch als Köllkuppe bekannte Dreitausender ist hier die klassische Einstiegstour. Kein Wunder, der Anstieg ist bis auf eine kurze Stufe unter dem Gipfel einfach, der Gletscher harmlos und bei sicherer Schneelage lockt zudem eine Abfahrtsvariante am östlichen Rand des Hohenferners. Komplett unbekannt ist dagegen unsere ursprünglich geplante Fortsetzung der Skitourenrunde mit Abfahrt über den Südostrücken zu den mageren Resten des Gletschers Vedretta del Càreser und Gegenanstieg auf die Hintere Schranspitze. Doch aufgrund der Schneelage mussten wir uns davon schon vor zwei Tagen gedanklich verabschieden.
Mit Sicherheit die richtige Entscheidung, denn auch der Anstieg ins Zufritttal auf der letzten Etappe entpuppt sich erst einmal als Wanderung. Selbst bei perfekten Verhältnissen verirren sich kaum Menschen in das großartige Tal oberhalb des gleichnamigen Stausees, dabei versteckt sich hier mit der Hinteren Nonnenspitze und ihrem knapp 1000-Meter-Nordhang das skifahrerisch wohl lohnendste Ziel des Martelltals. Das lassen wir allerdings rechts liegen, da wir zurück ins Ultental wechseln – eine Tour, die an Spannung kaum zu überbieten ist. Immer wieder dreht die Route, schließlich führt ein steiler Hang hinauf zu einem Rücken und einem Grat. Früher konnte man von dort problemlos auf den Zufrittferner queren, doch mittlerweile muss man etwas absteigen, um über den Gletscher einen Sattel südwestlich unter der Zufrittspitze zu erreichen. Der Übergang ins Ultental ist gleichzeitig ein Wechsel von den winterlichen Nordhängen ins Frühjahr. Doch wir können uns überraschenderweise mit kurzen Unterbrechungen und einem Seitenwechsel am Grünsee fast bis zum Weißbrunnsee durchmogeln. Die Abfahrt endet inmitten wunderschöner Krokuswiesen und damit genau so, wie man sich das Finale einer Frühjahrsskitour vorstellt. Früher hatte man dieses Erlebnis Mitte Mai, in diesem Jahr bereits Anfang April.
Bergsport heute: Schneemangel
Bei der Planung einer Tour helfen Beschreibungen und Bilder, die man in Führern und im Internet findet. Doch man muss immer bedenken, dass die aus einem schneereichen Zeitalter stammen und sich die Verhältnisse am Berg durch den Klimawandel und schneearme Winter teils stark verändern. So ging es auch Stefan Herbke auf der Runde durch die Ortlergruppe.