Ein Juchzen zerreißt die stille Bergwelt. Die Wände des tief eingeschnittenen Tals werfen es in allen Klangnuancen zurück. „Die Säumer kommen“ geht es von Mund zu Mund. Das ganze Dorf rennt zusammen. Das, was früher Alltag war, lebt wieder auf. Ihren Filzhut tragen die Gesellen tief ins Gesicht gezogen, die Fellweste lässig überm Hemd, als sei es der neueste Trend. Nur die Nagelschuhe haben sie durch moderneres Laufwerk ersetzt. Mit ihren Packtieren drängen die Säumer durch Engelbergs Gassen. Der Verkehr stockt, Kameras klicken, indische Reisegruppen trauen ihren Augen nicht.
Im Klosterhof versammelt sich der Säumertross am Brunnen. Jetzt müssen die Mannen erst mal ihren Durst stillen. Auf einen Schlag fühlt man sich um Jahrhunderte zurückversetzt – nur die modern verglaste Schaukäserei passt nicht ins Bild. Der Handel mit dem Käse brachte dem Kloster Engelberg bereits im Hochmittelalter Wohlstand. Während man heute zwischen unzähligen Käsesorten wählen kann, war damals der Sbrinz der Exportschlager: der erste transportfähige Käse. Säumer brachten ihn von der Innerschweiz und dem Berner Oberland über das Wallis ins Val d’Ossola (dt. Eschental). „Schbri-enz“, wie man hierzulande sagt, ist ein vollfetter Hartkäse, der erst richtig gut wird, wenn er mehr als 18 Monate gereift ist. Man bröckelt ihn, der würzige Geschmack erinnert an Parmesan. Auf den oberitalienischen Märkten riss man sich um den „sbrinzo“. „Wein gegen Käse war für beide Seiten ein lukratives Geschäft“, sagt Käsemeister Ernst Odermatt. Aus den penibel geführten Rechnungsbüchern des Walliser Handelsimperators Kaspar Jodok Stockalper weiß man, dass die Säumer im Jahre 1666 für 1400 Pfund Engelberger Käse 1000 Liter Wein bekamen.
Spediteure im Hochgebirge
Die Historiker sind sich sicher, dass eben dieser Export dem Käse seinen Namen einbrachte. Denn Brienz im Berner Oberland war ein großer Sammelplatz, bevor es über die Pässe nach Italien ging. Eine beschwerliche Reise, die bis in den Spätherbst bei jedem Wetter anstand. Es gab einen fixen Zeitplan, der nicht nur wegen der Markttage ernst zu nehmen war, sondern auch, weil die Säumer auf den abenteuerlichen, schmalen Pfaden kaum aneinander vorbeikamen. Da konnte es leicht passieren, dass ein Tier stürzte und den ganzen Trupp mit in den Abgrund riss. Also galt es, keine Zeit zu versäumen.
Rund um die Säumerei entwickelten sich diverse Berufe wie Sattler, Hufschmied oder Wirt, und selbst die abgelegensten Berggemeinden kamen zu etwas Geld. Der Ausbau der Passstraßen verlagerte die Handelsrouten; die Eröffnung der Gotthardpassstraße 1830 und der Gotthardbahn 1882 brachte die Sbrinz-Route endgültig zum Erliegen. Bis zu Beginn der Jahrtausendwende Obwaldner Hobbyhistoriker wie Dr. Remigius Küchler und Walter Zünd in Archiven immer wieder auf interessante Dokumente dieses Käsehandels und Kulturaustausches stießen.
So entstand die Idee, den Weg wieder aufleben zu lassen. Seit 2003 ziehen nun die Säumer im August eine Woche lang mit ihren Pferden, Mulis und Eseln in historischer Montur vom Vierwaldstättersee mal über den Brünig-, mal über den Jochpass ins Haslital, weiter über den Grimsel- und den Griespass zum Samstagsmarkt in Domodossola. Jede*r kann mitmachen – als Säumer oder einfach als wandernde Begleitung.
Schlafen unterm Sternenhimmel
Wer einmal dabei war, kommt oft im nächsten Jahr wieder. Manche haben sich auch ganz der Säumerei verschrieben, so wie Dres aus Meiringen. 2009 ging er zum ersten Mal mit seinen vier Eseln mit. Mittlerweile gibt er auch Säumerkurse. „Wahrscheinlich war ich in meinem Vorleben Säumer“, sagt der gelernte Zimmermann schmunzelnd. Nachts schläft er lieber draußen bei seinen Tieren unterm Sternenhimmel – so wie auf der Engstlenalp, die er anderntags über den Jochpass erreicht. Dort erwartet die Säumer ein Idyll: Alpenrosen umkränzen den Engstlensee, ein paar Ruderboote dümpeln dahin, im klaren Wasser tummeln sich Saiblinge. Im Hintergrund stehen windschiefe Arven und ein gewaltiger Findling. An ihm wurde so viel Energie gemessen wie an den Pyramiden von Gizeh. Ein Kraftort, oder wie es der britische Physiker und Alpinist John Tyndall im Sommer 1866 ausdrückte: „Einer der entzückendsten Orte der Alpen“.
Dass dieser Ort unverschandelt bleibt, dafür kämpft Fritz Immer, der in vierter Generation als Wirt das historische Hotel Engstlenalp führt. Dort logiert auch die Säumergruppe. 1909 gelang es, den Bau eines Kraftwerks abzuwenden. Heute stemmen sie sich gegen den geplanten Zusammenschluss der Skigebiete Titlis, Melchsee-Frutt und Hasliberg. „Es gibt nur noch wenige unverbaute Oasen“, sagt Immer. „Dabei suchen meine Gäste vor allem die stille Natur.“ Sein Blick wandert Richtung Westen, dorthin, wo die Eisgipfel des Berner Oberlandes Parade stehen. Am markantesten sticht das Wetterhorn hervor. „Unbeschreiblichen Adel“ strahle es aus, stellte der Brite Tyndall fest.
Uralte Spuren im Granit
Als es durch das verträumte Gental ins Hasli geht, gibt der Hufschlag den Takt vor. Auch in Guttannen kündigt man sich mit Juchzen an. Am altehrwürdigen „Bären“ wird abgeladen. Das Wirtshaus sei dem Säumergewerbe nicht zuträglich, beschwerte sich die Landesbehörde von Obwalden in den 1580er Jahren. Der italienische Wein mundete wohl allzu sehr. Auf der Strecke zum Grimselpass ist viel vom alten Weg erhalten. Gepflasterte Abschnitte, Stützmauern, Bogenbrücken, am berühmtesten sind die eingeschlagenen Stufen in der Hälenplatte (häl bedeutet glatt, rutschig). Dort hat auch der Gletscherforscher Agassiz 1838 seinen Namen und die Jahreszahl in einen Stein gemeißelt.
Noch 1841 wurden laut Verwaltungsbericht des Kanton Berns jährlich im Durchschnitt 2300 Saumtiere über den Grimsel geführt. Jenseits des Taleinschnitts grüßt die moderne Welt, die Passstraße, und unterwegs die Stauseen. In einem ist das alte Hospiz versenkt. Ein neueres trutzt nun auf einer Bergkuppe im Spinnennetz der Kraftwerksanlage. Auf der Passhöhe spiegeln sich die Schneegipfel im Totensee.
Beim Abstieg ins Goms strahlt die Sonne. Hier ist die Heimat von Leo, der mit seinem Freiberger Wallach Mäx mit dabei ist. „Das Erlebnis mit den Tieren schweißt zusammen“, sagt er. „Und es wird einem bewusst, wie wertvoll es ist, seine Heimat zu erhalten und ihr mit Respekt zu begegnen.“
Abgefrorene Zehen, verhängnisvolle Stürze
Der Griespass stellt die anspruchsvollste Etappe der Sbrinz-Route. Das hochalpine, teilweise steile Gelände ist für die Tiere nicht leicht zu bewältigen. Zu früheren Zeiten mussten die Säumer noch über den Gletscher marschieren. Heute hat er sich weit zurückgezogen. Abgefrorene Finger oder Zehen, Umherirren im Nebel, Sturz in eine Gletscherspalte – die Säumer hatten mit vielen Gefahren zu kämpfen. Da erreichte manch derber Fluch die Felswände. Über den Griespass zogen im 12. und 13. Jahrhundert auch die ersten Walsergruppen, um sich im Pomat, dem heutigen Val Formazza niederzulassen. Das Säumerwesen war eine ihrer Lebensgrundlagen. Dann kam die große Abwanderung. Jetzt belebt die Sbrinz-Route den Tourismus wieder etwas und gibt neue Hoffnung. Wenn mittags der Griespass und damit die Grenze zum Piemont erreicht ist, gibt’s erst mal eine ordentliche Pause. Die Säumer entfachen Holzscheite, die sie mitgebracht haben. Bald brodelt überm Lagerfeuer der Kaffischnaps, brutzeln Würste und Käseschnitten.
Im Walserdorf Riale, früher Z’Chärbach, wartet bereits eine Menschentraube auf den Einmarsch der Säumer. Der Empfang könnte nicht herzlicher sein. Frauen und Kinder haben ihre Trachten angelegt und schreiten gemeinsam mit der Musikkapelle den Säumern entgegen, um sie ins Dorf zu begleiten. Dort wird erstmals der mitgeführte Sbrinz verkauft. Viele wollen ein Stück Käse ergattern und wedeln mit ihren Geldscheinen. Auch die Dorfältesten sind gekommen und palavern auf Walserdeutsch. Ganz wie in guten, alten Zeiten eben.
Zwei Tage und 47 Kilometer später trifft der Säumertrupp auf dem Samstagsmarkt in Domodossola ein. Handys und Kameras klicken, die Besucher sind begeistert, die Tiere müde und geduldig. Dres umarmt seine Esel, bedankt sich. Ein tiefes Vertrauen liegt hier zwischen Mensch und Tier.