Die Dielen knarzen, als würde jemand durchs Haus schleichen. Eine steile Wendeltreppe führt nach oben. Da und dort gehen Gänge ab. Verwinkelt und verwirrend die Wegführung. Hätte man’s eilig oder wäre in Gedanken, könnte man leicht über eine dicke Holztruhe stolpern. Sie sieht aus wie eine Schatztruhe. Spooky. Und so wirkt auch die äußere Hülle des Gebäudes: wie ein filmreifes Spukhaus mit seinem Türmchen, den Arkaden und verschnörkelten Säulen. Ein bisschen gruselig, würde Nebel wallen und Fata Morgana spielen. Herrlich mystisch bei Dunkelheit, wenn sich die Milchstraße funkelnd darüber spannt.
Mucksmäuschenstill ist’s, wenn das Gebälk nicht wieder mal knarzt und auch die Straße gesperrt ist, die an der Locanda Galleria Rosazza direkt vorbeiführt. Dann dürfen die Frühstückstische auf der Straße stehen und man genießt abgasfrei die schöne Landschaft, den freien Blick über das Biellese in die Poebene.
Die schönste Panoramastraße des Piemont
Dort, wo sich die Hänge aus der Ebene zu den Alpen aufschwingen, zieht die Strada Panoramica Zegna durch. Vermarktet als schönste Panoramastraße des Piemont, musste ihre Fortsetzung wegen eines Erdrutsches gesperrt werden – nun liegt sie seit einem Jahr im Dornröschenschlaf. Wir freuen uns darüber und würden uns wünschen, dass man sie für immer als Rad- und Fußgängerzone belässt. Die Galleria Rosazza ließ der Rechtsanwalt und Senator Federico Rosazza Pistolet Ende des 19. Jahrhunderts erbauen, erzählt uns Wirtin Simona beim Frühstück. Damit gab es eine direktere Verbindung vom Dorf Rosazza im Oberen Cervotal nach Oropa. Den dazwischenliegenden Kamm durchbohrt ein schnurgerader Tunnel, eben diese Galleria Rosazza, in die nun die Morgensonne streift, während wir zufrieden am Cappuccino nippen. Simona holt aus, erzählt von der Strada Panoramica Zegna, die erst in den 1930er Jahren entstand. Sie führt von Trivero nach Rosazza. Textilfabrikant Ermenegildo Zegna, dessen Firma zum Weltmarktführer im Bereich Herrenkollektionen aufstieg, wollte damit die Regionalentwicklung fördern. Mit der Textil- und Wollindustrie war in Biella, der kleinsten Provinz des Piemonts, Wohlstand eingezogen. Geschäfte mit Barockportalen und prächtige Villen säumen so manche Straße. Begehrt sind die Outlet Stores der Textilmanufakturen, die einen günstigen Direktverkauf bieten. Industriebarone investierten einen Teil ihres Geldes in die Natur, so wurde ein ganzer Hügel über Biella in einen Garten Eden verwandelt. Der Parco Burcina begeistert mit schönen Blumenarrangements unter Sequoiabäumen, Pinien und Zedern. Oder die Oasi Zegna, wo mit Aufforstung, Zierpflanzungen und neuen Wanderwegen ein rege genutztes Erholungsrevier entstand. Dieter und mir aber steht der Sinn mehr nach wilder Natur. Gerade die gibt es hier zur Genüge, weil die italienische Mehrheit eben gewisse Ansprüche an die Bequemlichkeit stellt und deshalb lieber in Straßennähe bleibt.
Die Alta Via Alpi Biellese (AVAB) beispielsweise begeistert uns: eine verwegene Route entlang der Kammschneide, die das Biellese von der Aostaregion trennt. Für uns einer der schönsten Panoramasteige der Südalpen. Es wirkt, als würde man hautnah an den Viertausendern stehen, an Mont Blanc, Matterhorn, Monte Rosa. Gleichzeitig breitet sich im Süden die italienische Tiefebene aus und es fällt leicht, sich am Horizont das Meer vorzustellen. Dennoch ist die Route kaum bekannt, folglich kaum begangen.
Dass hier vieles „unberührt“ blieb, hat vielleicht auch damit zu tun, dass in Biella 1987 auf Initiative von Reinhold Messner Mountain Wilderness gegründet wurde. Die längst internationale Bewegung verfolgt das Ziel, die Berge vor zu starker Infrastruktur zu schützen. „Ich wollte die Bewegung ursprünglich White Wilderness nennen“, verriet Messner damals in einem Interview, denn er sieht es als wichtig an, dass weiße Flecken auf der Landkarte bleiben. Ein „... Freiraum. Da ist die Stille, da ist die Einsamkeit, da ist das unverbaute Land daheim.“ Aber es ist nicht nur diese Alta Via, die uns ins Hinterland von Biella zieht. Sondern die Mischung aus Wildnis und Jahrtausende alter Kultur. Pilger- und Kreuzwege durchziehen die Landschaft. Da stößt man mitten im Wald auf wundersame Kapellen, aus deren Schatten sich fast geisterhaft kunstvolle Fresken lösen. Man kann in Klöstern übernachten, sich von deren Kräutergärten inspirieren lassen, dem Heilwissen nachspüren, Kunstschätze bewundern. Verknüpft man die AVAB zu einer Runde, erlebt man beides, und die Locanda Galleria Rosazza liegt direkt am Weg.
Gleich jenseits des Scheiteltunnels an der verwunschenen Herberge trifft man im Talgrund auf Oropa, eines der wichtigsten Heiligtümer Italiens. Seit 2003 auch Unesco-Weltkulturerbe. Beim Bummel durch diese gigantische Anlage, die man in einer doch eher unscheinbaren Gebirgsfalte nicht vermutet hätte, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Allein schon die Kuppel der Basilika, 80 Meter hoch, weist auf außergewöhnliche Dimensionen hin. Als hätte man hier Zugang zu Höherem, zeigt sich die ganze Umgebung, im speziellen Rosazza, das Dorf im Oberen Cervotal, zu dem von der Locanda die Straße in die andere Richtung führt. „Un borgo misterioso“ bezeichnet es Simona und zeigt uns die esoterischen Symbole im Mauerwerk der Locanda, die auch im Ortsbild von Rosazza auftauchen und auf die Freimaurerei hinweisen.
Rosazza – eine interessante Mischung verschiedener Stile
Wir erfahren, dass Federico Rosazza Pistolet, 1813 im Dorf geboren, bereits früh zwei Schicksalsschläge verkraften musste: den Tod seiner Frau und seiner einzigen, erst 16-jährigen Tochter. Er suchte Hilfe im Okkulten, schloss sich mit dem Maler und Architekten, Medium und Freimaurer Giuseppe Maffei zusammen. Gemeinsam machten sie sich die Umgestaltung des Dorfes zur Lebensaufgabe. Von ihren Reisen durch viele Stilrichtungen inspiriert und geleitet von einer inneren Führung entstand ein ganz ungewöhnliches Dorf. Beispielsweise zeigt sich die Kirche im lombardischen Stil, anderes erinnert an Schottland, wie die Schlosstürme des Castello di Rosazza. Zwischen den alten Walserhäusern eine interessante Mischung. Simona, dereinst Ikonen-Restaurateurin, hatte diese Geschichte schon immer fasziniert und als dann die Locanda zur Bewirtschaftung ausgeschrieben war, zugegriffen. Nicht nur, dass Rosazza den Einheimischen die Jobs gab, er schaffte auch bessere Arbeitsbedingungen, als es in jener Zeit üblich war. So bekamen die Frauen mehr Lohn und es galten striktere Sicherheitsregeln. Kein einziger Arbeiter sei beim Bau der Straße umgekommen. Mitunter spuke der Geist von Rosazza noch durchs Haus, höre sie Schritte, wenn keiner da sei. Aber vielleicht sind es ja auch die Siebenschläfer, die nachts ihr Unwesen treiben, schmunzelt Simona.
Als ein besonderer Gipfel im Kammverlauf der AVAB erweist sich der Monte Mars. Nicht nur seines Namens wegen und weil er der Höchste der Biellese-Alpen ist, sondern weil er in einer Landschaft von besonderer Bedeutung liegt. Um diese genauer zu betrachten, umrundet man den Monte Mars am besten, weil das Naturschutzgebiet, die seit 1993 geschützte Reserva Naturale del Monte Mars, nur die Aosta-Seite umfasst. Hinzugelangen geht ganz leicht, denn von Oropa befördert erst eine Seilbahn (aktuell aufgrund von Wartungsarbeiten geschlossen), dann ein nostalgischer Korblift weit nach droben. Vor allem letzteres macht riesigen Spaß: man schwebt in seinem halben Käfig durch die Landschaft wie ein Alien. Oropa schrumpft, die Poebene wächst. Genauso schnell wechselt das saftige Grün in alpine Brache. Und bald steht man auf dem Monte Camino und kann auch in die andere Richtung staunen, wo sich die Haute Volée der Walliser Viertausender hautnah aufreiht. Nur fünf Minuten von der Bergstation entfernt, teilt man freilich den Gipfel des Öfteren mit Schaulustigen, doch dem Kamm gefolgt, ist man rasch alleine. Farbpunkte leiten durch Blockfeldgelände bis zum Colle della Barma, wo man wieder auf einen Wanderweg trifft.
Der Pass trennt das Biellese vom Aostatal. Zu Füßen im Westen betten sich in vom Gletscher ausgeschliffene Mulden glitzernde Seeaugen und leuchtend grüne Biotope. Ein zauberhafter Kontrast zu den Schuttflanken der umliegenden Berge. Auf einem kleinen Plateau zwischen den Seen liegt das Rifugio Barma. Ein Neubau, dabei wirkt es wie eine alte Festung. Kleine Steinhäuser bilden einen Kreis, als wollten sie alles rundum überwachen. Wegen der Grasdächer fügt sich der Komplex perfekt in die Landschaft ein. Eigentlich erstaunlich, dass in einem Naturschutzgebiet gebaut werden durfte. Vielleicht machte es die Lage am legendären Pilgerweg nach Oropa sowie an der Alta Via Nr. 1 notwendig. Mit Fördergeldern startete die Gemeinde Fontainemore bereits im Jahr 2000 das Hüttenprojekt. Doch nach Fertigstellung stand es einige Jahre leer, wollte sich niemand für die Pacht finden, erzählt uns Greta Armani. Ihre Eltern hatten sich, gemeinsam mit der Familie ihrer Tante 2019 entschieden, das Abenteuer der Bewirtschaftung anzugehen. Seither hilft Greta während ihrer sommerlichen Semesterferien mit. Und da sie in Passau studiert, führte Greta auch eine gewisse Exotik ein, so steht gelegentlich eine Cena Bavarese auf der Karte: ein bayrisches Abendessen mit in Bier geschmorter Schweinshaxe, Kässpätzle und Kaiserschmarrn. Demnächst könnte es Blåbärssoppa oder Köttbullar sein, denn Greta plant die Fortsetzung ihres Studiums in Schweden. Jetzt aber freuen sich Dieter und ich auf die mediterrane Küche, lassen uns hauchdünn geschnittenes Carpaccio auf der Zunge zergehen, im Anschluss Salbeignocchi und Tiramisu. Weil die Anlage um einen Felsen herum gebaut wurde, gab man ihr den Namen Barma. So heißt im einheimischen Patois ein vorstehender, eine Höhle bildender Fels, ein Unterschlupf. Sich nur für eine Nacht einzuquartieren, wäre definitiv zu kurz, um diesen gediegenen „Unterschlupf“ angemessen zu genießen. Sichtmauerwerk und Lärchenholz sorgen für Gemütlichkeit. Man kann sich auch in einen Hängesessel fläzen und durch Panoramafenster zu See und Bergen träumen. Oben über den Kamm führt die AVAB. Eine Stippvisite als Tagesausflug geht auch. Selbst an Sonntagen ist es hier einsam, da die meisten Gäste um die Seen bummeln, baden oder sich am Ufer sonnen.
In einem 400 Jahre alten Walserhaus etwas tiefer im Tal lebt die Familie Armani, dort sind die drei Geschwister Greta, Emil und Eric aufgewachsen. Nicht etwa nordische, sondern typische Walsernamen, lacht Greta, als wir nachfragen. Das Tal der Lys gehöre zu den Hochtälern südlich des Monte Rosa, wo sich im Mittelalter die ersten Walserfamilien niederließen. Draußen bullert die Hitze und man freut sich über die Kühle spendenden Räumlichkeiten. Genial sind die Solartubes, die das Sonnenlicht in die Waschräume und Gänge zaubern. Architektonisch hat man sich hier etwas einfallen lassen, leider auch Lichtschalter am Schlafplatz, die nachts leuchten, sowie unserer Meinung nach völlig unnötige Händetrockner, die beim Einschlafen stören. Mag sein, dass auch der Vollmond seine Wirkung tut. Gespenstisch beleuchtet er das natürliche Amphitheater. Anderntags folgen wir dem Sentiero del Lys wie auch der Alta Via Nr. 1 Richtung Coda. Im Auf und Ab schlängelt sich der Pfad über Alpterrassen nach Süden. Wir begegnen einer Herde neugieriger Ziegen und ein paar Rindern. Nicht wenige Alphütten aber machen einen verlassenen Eindruck. Nach ein paar Stunden verlässt der Weg die bequeme Höhenlinie und führt quasi direttissima zur Krete, die wir am Colle Sella erreichen. Schön, dass unterwegs ein kleiner See Abkühlung erlaubt. So erreichen wir nicht verschwitzt, sondern erfrischt das Rifugio Coda.
Seine Lage direkt auf dem Kamm macht es einzigartig, aber auch die herzliche Hüttenwirtin Christina Chiappo, die den Stützpunkt gemeinsam mit ihrer Schwester Laura bereits seit 32 Jahren führt. Legendär sind ihre „Zuccherini“. Über der Theke reihen sich die Gläser der in Hochprozentigem eingelegten Zuckerstücke. Ob Zimt, Orange oder ein anderer Gusto, ein „Zuccherino“ auf die Zunge gelegt, ergibt gewaltige Geschmackskonstellationen. Am lustigsten wird es mit Nelke. Warum, wird nicht verraten.
So gediegen die eine, so einfach die andere: eine Hütte der alten Schule. Kein Lichtschalter leuchtet, kein Händetrockner brüllt. Dafür glitzert des nachts unter einem das Lichtermeer der Poebene, als spiegle sich der Sternenhimmel. Summt die Luft voller Glühwürmchen. Aber vielleicht spukt es ja auch nur.