Der Lärm dröhnt in meinen Ohren und will einfach nicht zu der idyllischen Obstwiese passen, über die ich gerade gehe. Das nahe Geräusch klingt wie eine Mischung aus Laubbläser und Staubsauger. Und genau so eine Konstruktion sitzt auf Francescos Rücken. Der Landschaftspfleger befreit den raspelkurzen Rasen vor der alten romanischen Kirche San Juan de Ciliergo in Panes vom Herbstlaub, das Anfang Oktober schon von den Bäumen segelt. Die Kirche aus dem 13. Jahrhundert ist aus grauem Stein gemauert. In Kombination mit der saftig-grünen Vegetation und dem Nieselregen fühlt man sich wie in Schottland oder Irland. Das mag auch an dem keltischen Erbe liegen. Die antiken Volksgruppen der Eisenzeit besiedelten einst Asturien. Bis heute sieht man ihren Einfluss auf Kunst und Kultur. „Asturien ist sehr fruchtbar“, sagt Francesco in gutem Englisch, nicht umsonst nennt sich die nordspanische Region auch Costa Verde. Die grüne Küste liegt nur etwa 15 Kilometer von Panes entfernt. Francesco trägt einen Blaumann und eine rote Schirmmütze. Schwül ist es an diesem Tag, Wolken verhängen den Himmel. Er stellt sein Gerät ab, lehnt sich an die windschiefe Mauer, die die Kirche eingrenzt, beißt abwechselnd in sein Pausenbrot oder zieht an seiner Zigarette.
In der Gemeinde Peñamellera Baja, zu der Panes gehört, sei er für die Pflege der Sehenswürdigkeiten zuständig. „Englisch habe ich mir selbst beigebracht“, sagt er, „um Musiktexte verstehen zu können“. Am liebsten mag er Iron Maiden, letztens hätten aber auch die Scorpions in der Gegend ein Konzert gegeben.
Unbekannte Wege
Panes ist der Startort des Camino Natural de la Cordillera Cantábrica (GR-109), der von Ost nach West durch das asturische Hinterland entlang des Kantabrischen Gebirges führt. Das Gebirge stellt die westliche Verlängerung der Pyrenäen dar und gilt als Klimascheide zum zentralspanischen Tafelland. Im Ort Panes, dem mit zwanzig Metern niedrigsten Punkt der Wanderung, zeugt nicht viel davon, dass hier ein Weitwanderweg startet, den der Tourismusverband vor einigen Jahren eröffnet hat. Als ich im Ort nach dem Startpunkt frage, schütteln die Befragten nur den Kopf. Das kann an meinen ungenügenden Spanischkenntnissen (Asturisch kann ich schon gar nicht) liegen, oder daran, dass dieser Weg noch weitgehend unbekannt ist. Weitwandern in Spanien verbindet man zuerst mit dem Camino Frances, dem bekanntesten Teil des Jakobswegs, der südlich verläuft. Der Camino Natural de la Cordillera Cantábrica ist eine Etage weiter nördlich angesiedelt, obwohl sich einige Abschnitte auch mit dem Jakobsweg überschneiden. Manchmal erblicke ich am Wegesrand das typische Schild der Pilgerroute mit gelber Muschel auf blauem Hintergrund. Ich bin allein mit Hund unterwegs.
Seitdem ich meinen Campervan habe, liebe ich es, einfach draufloszufahren und neue Gegenden zu entdecken. Auf dem GR-109 – das GR steht für Grande Randonnée, also französisch für Weitwanderweg – wandere ich nur ein paar Etappen, weil ich keine Zeit habe, den kompletten Weg zu gehen. Immerhin bewältigt man die gut 500 Kilometer und etwa 19.000 Höhenmeter in 27 Etappen, hinzu kommen Pausentage, die ich bei einem solchen Projekt immer einplanen würde. Die ersten Etappen führen entlang der etwa vierzig Kilometer langen Bergkette Sierra de Cuera, die parallel zur Küste Asturiens verläuft. Die Gipfel ragen über tausend Meter in die Höhe, wobei der höchste Gipfel, der Pico Turbina, 1315 Meter misst. Von oben genießt man einen Blick auf die Biskaya, die wilde Bucht des Atlantiks im Norden Spaniens, und die Picos de Europa, ein Kalksteinmassiv, das ich eine Woche vorher besucht habe. Die Picos de Europa, also Gipfel Europas, liegen nur teilweise in Asturien, den Rest des beliebten Wander- und Klettergebirges teilen sich die im Osten und Süden angrenzenden Provinzen Kantabrien und Kastilien-León. Die Picos gehören ebenso zum Kantabrischen Gebirge, wobei der 2648 Meter hohe Gipfel Torre de Cerredo die höchste Erhebung der Kette bildet. Die erste Etappe von Panes ins Bergdorf Alles ist gut 18 Kilometer lang. Langsam bahnt sich die Sonne ihren Weg durch die Wolken und heizt die Luft auf. Da kommt es ganz gelegen, dass einem die Früchte hier in den Mund zu wachsen scheinen. Ich pflücke zwei Feigen und esse sie gleich.
Wenig später gehen wir an eingezäunten Wiesen mit improvisiert wirkenden Stallungen vorbei. Unter die Ziegen und Schafe mischen sich große, weiße Herdenschutzhunde. Ich frage den Bauern, der gerade Äpfel pflückt, ob es hier Wölfe gibt. „Ja, die kommen bis in die Dörfer“, sagt er, nachdem er sich als Manuel vorgestellt hat. Das kantabrische Gebirge ist mit seinen Braunbären, Bartgeiern, Füchsen, Mardern, den einheimischen, halbwilden Asturcón-Ponys und Wildkatzen für sein Artenreichtum bekannt. Auf den Almen an den Südhängen der Sierra del Cuera grasen Kühe und Ziegen und liefern die Milch für den typischen Cabrales-Käse, ein kräftiger Blauschimmelkäse, der in Höhlen reift.
Wandern mit Geschichte und Kultur
Auf dem Camino Natural entdeckt man nicht nur außergewöhnliche Natur, sondern kann auch eintauchen in das reiche kulturelle Erbe der Region. Man überquert mittelalterliche Brücken, bestaunt alte Klöster und trifft immer wieder auf Menschen, die Handwerkstraditionen wie etwa das Schmieden am Leben halten. Der Hauptsitz des einstigen Königreichs Asturien war bis 774 in Cangas de Onís, das wir auf Etappe vier durchwandern. Von Asturien aus begann der Widerstand der Christen gegen die Muslime, die die Iberische Halbinsel erobert hatten. Die Muslime wurden in der legendären Schlacht von Covadonga besiegt, was als Beginn der Reconquista gewertet wird. Seit dem 14. Jahrhundert ist Asturien ein Fürstentum, das eng mit der spanischen Monarchie verbunden ist. Im 19. Jahrhundert verhalfen die Vorkommen an Eisenerz, Steinkohle, Zink, Blei, Mangan und Kalisalz der Region zur industriellen Entwicklung. Davon zeugen noch heute alte Minen und Transportwege entlang der Strecke. Ihren Autonomiestatus erhielt die Provinz 1982.
Auch auf der ersten Etappe liegt der Río Deva mit seiner Uferlandschaft aus wilden Weidenhainen, den Saucedes de Buelles, die nur am Deva zu finden sind. Die letzten vierhundert Höhenmeter hoch zum Tagesziel in Alles haben es in sich. Der Blick zurück belohnt für alle Mühen. Stark exponiert ragt der Gipfel Pica de Peñamellera über sanftem Hügelland nach oben. Im Dorf gehen wir an Gutshäusern und Steinhäusern mit gut bestückten Gemüsegärten vorbei. Vom Restaurant am Dorfplatz weht ein herzhafter Geruch herüber. Bekannte Gerichte der Region sind Caldereta de Marisco, ein Fischeintopf, und Fabada, ein aromatischer Eintopf mit weißen Bohnen. Dazu wird in Asturien der Apfelwein Sidra serviert. Kurz spreche ich mit Paquita, einer älteren Dame, die gerade einen großen Kohlkopf erntet. Sie fragt, wohin wir unterwegs seien, und freut sich über die späten Gäste. „Die meisten sind im Frühling oder Spätsommer unterwegs“, sagt sie. Am Straßenrand steht ein Automat, an dem man Feuerholzbündel kaufen kann. In den Dörfern treffe ich immer wieder auf Hórreos, die auf Säulen erbauten Kornkammern aus Holz, die teils gut erhalten, aber auch mal einsturzgefährdet, zur Lagerung von Getreide und Mais dienen. Viele stammen noch aus dem 16. Jahrhundert. In welchem Zustand sie sind, hängt auch davon ab, ob ihr Erhalt von Verwaltungsseite gefördert wird, erzählt mir ein junger Mann in Romillo auf der fünften Etappe. Manche sind mit getrockneten Maiskolben und Kürbissen herbstlich geschmückt.
Auch wenn die Wege mit Bergwandererfahrung gut zu meistern sind, sollte man den GR-109 nicht unterschätzen. Zur Navigation nutze ich mein Handy, auf dem ich alle Etappen abgespeichert habe. Allein auf die Beschilderung verlasse ich mich nicht. Konditionell fordernd ist die Etappe 15 von Villanueva nach Villamayor mit 1200 Höhenmetern und 25 Kilometern. Als ich in Villamayor ankomme, eröffnet sich mir der Blick auf bewaldetes Hügelland im Vordergrund und die Gebirgszüge Peña Gradura und La Llomba dahinter. Der Ort schmiegt sich terrassenartig an einen Hang und ist durch die Abendsonne hell erleuchtet. Kurz erinnert mich der Anblick an eines der nepalesischen Dörfer im Khumbutal, durch das man zum Mount Everest gelangt.
Die Vorzüge des Landlebens
Ich treffe zwei Frauen, sie stellen sich als Schwestern vor. Eine lebt schon immer im Dorf, die andere ist kürzlich aus der Stadt zurückgezogen, weil sie nicht mehr ohne den Ausblick und endlich wieder in Ruhe leben wollte. Ich kann sie verstehen. Gerade zieht der Dunst vom Meer herüber, ein typisches Wetterphänomen in Asturien. Die Schwestern erzählen, dass der Weiterweg mit dem Camino Real de la Mesa zusammenfällt, einer alten Römerstraße, und durch den „wunderschönen“ Naturpark Las Ubiñas-La Mesa führt. In der Tat verzaubert auch die Wanderung in das Bergdorf Dolia am nächsten Tag. Begleitet vom Glockengeläut der Kühe, Grillenzirpen und dem Summen vereinzelter Bienen, die noch herumschwirren, genießen wir die ländliche Idylle.
Mit Efeu bewachsene Steinmauern trennen die Ländereien voneinander ab und prägen zwischen den Kastanien-, Eichen- und Buchenwäldern überall das Landschaftsbild. Später treffen wir auf kleine Steinhütten, in denen die Hirten im Sommer unterkommen. Bei meiner Ankunft in Santa Eulalia de Oscos, dem Endpunkt des GR-109, an der Grenze zur Nachbarprovinz Galicien, spüre ich, dass nun alles noch eine Spur wilder wird. Wir erreichen den Ort eine Stunde vor Sonnenuntergang, wandern an alten Herrenhäusern und restaurierten Steinhäusern vorbei.
Ich setze mich auf die Plaza de Sargadelos im oberen Teil des Ortes, schaue auf die hügelige Landschaft und das dunkelgrüne Tal des Flusses Agüeira, das im gelben Abendlicht aussieht wie ein Regenwald. Auf einem großen Schieferdach unter mir sitzen bald dreißig Tauben und genießen gurrend die letzten Sonnenstrahlen. In diesem Moment entschließe ich, dass ich wieder in den Norden Spaniens reise – und beim nächsten Mal den kompletten Weg gehe.
Tipps für den Bergurlaub
Seen von Covadonga: Ein Ausflug zu den beiden Bergseen Lago Enol und Lago de la Ercina auf etwa tausend Metern gehört zu einem Urlaub in Asturien dazu. Die Seen erreicht man mit Bus oder Auto von Covadonga oder Cangas de Onís. Auf der Ruta de los Lagos kann man beide Seen, die Mariengrotte und die neoromantische Basilika Santa María la Real de Covadonga erkunden.
Picos de Europa: Der Nationalpark liegt in den Provinzen von Asturien, Kantabrien und Kastilien-León. Besonders schön ist der asturische Ort Bulnes, den man nur zu Fuß oder mit einer Standseilbahn erreicht. Vom Ort führt ein Bergwanderweg weiter zum Wahrzeichen der Picos de Europa, dem Narranjo de Bulnes, auf asturisch Picu Urriellu. Der 2518 Meter hohe Kalkstein-Monolith ist weithin sichtbar und ein bekannter Klettergipfel.
Klettern in Asturien: Die Provinz ist auch für Entrecampos und Mehrseillängen bekannt. Wer direkt am Meer klettern will, ist im Gebiet Cuevas del Mar richtig. Auch die Klettergebiete Teverga, Depuradora und Entrecampos (anspruchsvoller) bieten eine große Auswahl an Routen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Für Trad Climbing fährt man in die Picos de Europa (zum Beispiel am Narranjo de Bulnes).
Surfen an der Küste: Die Küste in Nordspanien eignet sich perfekt zum Surfen. Insgesamt findet man allein in Asturien 60 Surfspots, darunter Ribadesella, Playa de Vega und einen der besten europäischen Rivermouthbreaks in Rodiles – oder man hält in einer der einsamen Buchten zwischen Gijón und Avilés. Dem eigenwilligen Wetter trotzt man mit einem dicken Neoprenanzug und Spaß an der Bewegung.
Bären in Somiedo: Dank des besonderen Artenreichtums und der Braunbärenpopulation ist der Naturpark und das Biosphärenreservat Somiedo im Süden Asturiens unbedingt einen Besuch wert. Etwa 300 Braunbären leben in den Wäldern im Kantabrischen Gebirge. Mit einem ortskundigen Guide lassen sich Bären besonders gut im April/Mai und von Mitte August bis September beobachten.