„En vacances il ne faut pas presser“ – im Urlaub sollte man keine Eile haben, antwortet der freundliche Hüttenwirt der Cabane des Aiguilles Rouges oberhalb von Arolla auf meine Frage, wann es denn das Nachtessen gibt. Richtig, im französischsprachigen Unterwallis (auf Französisch „Bas-Valais“) westlich der bekannten Oberwalliser Destinationen Saas-Fee und Zermatt geht es etwas gemächlicher zu. Das Unterwallis beginnt im Rhonetal an der Sprachgrenze beim Pfynwald und umfasst einen circa 70 Kilometer langen Talabschnitt mitsamt den Seitentälern Val d’Anniviers, Val de Réchy, Val d’Hérens, Val d'Hérémence, Val de Bagnes, Val d’Entremont, Val Ferret, Vallée du Trient und – kurz vorm Genfer See – das Val d’Illiez; nördlich der Rhone das Morge- und das Lizernetal. Ihnen allen ist gemein, dass sie sich als Kerbtäler mit steilen Talflanken von einer Höhe um die 500 Meter bis zu den Talschlüssen mit den letzten kleinen Siedlungen zwischen 1600 und 2000 Metern emporziehen. Schon die Fahrten hinauf sind abenteuerlich und lassen einen mancherorts schaudernd in die Tiefe blicken. Aber die Schweizer Chauffeusen und Chauffeure steuern ihre gelben Busse mit sicherer Hand und lassen an heiklen Stellen immer mal ihre Postautofanfare erklingen.
All die Täler weisen im Großen und Ganzen zumindest im Ortskern jahrhundertealte und authentische Dörfer aus. Eng stehen die blumengeschmückten und von der Sonne dunkel gebrannten Holzhäuser und Heustadel beieinander. In einigen Tälern verströmen riesige (Kur-)Hotels der Belle Époque noch den Charme der guten alten Zeit. Bei Skigebieten wie Crans-Montana, Nendaz oder Verbier sieht man allerdings Bauten im Einheits-Chaletstil und Thyon 2000 wirkt gar wie eine Retortenstation der französischen Alpen. Diese Orte liegen relativ nah zum Rhonetal. Wer aber im Sommer und Herbst zum Wandern, Bergsteigen oder Klettern hierherkommt und sich mehr in die Hochlagen bewegt, findet genug nette Unterkünfte.
Campen mitten in der Natur
Nicht zuletzt sind die Täler ein Paradies für alle, die naturbelassene Campingplätze mögen – denn hier kann man mitten im Lärchenwald sein Lager aufschlagen und abends vor dem Zelt oder Campingbus ein Feuer mit selbst gesammeltem Holz anfachen. Die Plätze – übrigens sind sie teils billiger als in Deutschland – sind sämtlich mit dem Postbus zu erreichen und das Beste: In manchen Tälern ist bei Übernachtung auf dem Campingplatz (und Zahlung der Kurtaxe) die kostenlose Benützung der Busse und teilweise auch Bergbahnen für die Aufenthaltsdauer inkludiert. Insofern bieten sich Wanderungen mit unterschiedlichem Ausgangs- und Endpunkt an, schließlich ist die Rückkehr per Bus mit diesem „Öffi-Ticket“ kein Problem.
Platzreservierungen sind hier im Allgemeinen nicht nötig und es gibt auch keine abgesteckten Parzellen. Allerdings sind die Campingplätze aufgrund ihrer Höhenlage bis knapp unter die 2000-Meter-Grenze oft nur von Mitte Mai/Anfang Juni bis Ende September geöffnet, und nachts kann es dort empfindlich kühl werden. Der Wart des auf Terrassen angelegten Campings in Arolla fasst es so zusammen: „Es ist wirklich eine Oase des Friedens! Wir haben eine eigene Wasserquelle, saubere Luft, den Blick auf die Gletscher und die Berge … dies ist das wahre Leben!“
„Komm mit mir ins Wallis“ – so heißt ein Buchklassiker von Walter Schmid, und das sage auch ich: Machen wir doch zusammen einen Streifzug durch diese außergewöhnlichen Täler. Das Val d’Anniviers (auch Zinaltal oder Eifischtal) kenne ich seit Jahrzehnten und entdecke doch immer wieder Neuland. Bei meinem letzten Besuch wurde mir von der Wirtin der Gîte de St-Jean der Weg von Grimentz aus zur Cabane des Becs de Bosson (2982 m) empfohlen. Tipps von Einheimischen sollte man immer folgen! Nach knapp drei Stunden Wanderung öffnet sich oben ein Panorama sondergleichen. Da erheben sich vor einem die fünf Viertausender des Zinaltals – Bishorn, Weisshorn, Zinalrothorn, Obergabelhorn und Dent Blanche – und ich erinnere mich freudig an meine Tour über den Nordgrat zum Zinalrothorn. Mein Bergführer sagte damals immer, nachdem er den Stand gebaut hatte: „Sie können jetzt nachkommen, Madame!“ Natürlich auf Französisch. Nach meiner Pause nehme ich nicht den Abstieg zur Staumauer des Lac de Moiry, sondern mache eine Rundtour und komme schnell mithilfe einer kostenlosen Bahnfahrt von Bendolla nach Grimentz hinunter. Dort kehre ich am Dorfplatz ein und schaue zu, wie die Menschen ihren Urlaub in einer der schönsten Walliser Gassen genießen.
Nach Westen schiebt sich das Val de Réchy vor das Val d’Hérens, ein unbewohntes kleines Tal mit einer unter Schutz gestellten Moorlandschaft. Dorthin führt von Vercorin eine Wanderung entlang einer der vielen historischen Wasserleitungen, die hier „Bisses“ („Suonen“ im Oberwallis) genannt werden. Das brachte vor Jahren auch meinen Kindern großen Spaß. Im Val de Nendaz, eines der „4 Vallées“ - das Skigebiet mit dem Hauptort Verbier -, gibt es allein 100 Kilometer Wanderwege entlang der Suonen, ein Shuttlebus bringt die Wander*innen zurück.
Leichter Wanderdreitausender
Im Val d’Hérens erreicht man links, vorbei an den berühmten Erdpyramiden von Euseigne, den entzückenden Ort Evolène und dann Ferpècle – Ausgangspunkt zum mächtigen Dent Blanche; rechts abzweigend geht es nach Arolla, wo übrigens die neuntägige Tour Matterhorn vorbeiführt. Von diesem hoch gelegenen Örtchen nah an einem Arvenwald sind wegen des Gletscherrückzugs einige Dreitausender jetzt schwieriger geworden. Aber die Pointe de la Vouasson (3486 m), die nach Norden mit einer steilen Wand abstürzt, gilt immer noch als leichter Wanderdreitausender, wenn man von Süden von der Cabane des Aiguilles Rouges aufsteigt. Hier bietet sich ein Abstieg über den türkisblauen Lac Bleu an.
Das Val d’Hérémence, ein Seitental des Val d’Hérens, endet an dem riesigen Stausee Lac des Dix. Von seiner Staumauer Grande Dixence, der höchsten Gewichtsstaumauer der Welt, kann man eine schöne Rundwanderung über den Mont Blava unternehmen, oder man wählt eine nirgends ausgeschilderte, aber blauweiß markierte und lange Alpinroute hoch zum Refuge-Igloo des Pantalons Blancs (3291 m) am Rand der Gletscher. Nur ein Pfeil an einem Felsen gibt die Richtung an. Die unbewirtete Biwakhütte hat die Form eines Iglus und ist nach dem benachbarten Gletscher der „weißen Hosen“ benannt. Als ich dem Iglu einen Besuch abstatte, laden mich freundliche Schweizer zum Essen ein – sie haben große Käselaibe und Weißbrot mitgeschleppt und richten dies nett auf einem Holzbrett an. Wasser muss man sich aus dem Schnee schmelzen. Der Blick zu Matterhorn und Grand Combin ist einmalig und aus dem Klohäusl heraus zeigen sich am Abend schöne Stimmungen.
Am Rhoneknie bei Martigny zweigt das Val de Bagnes ab. Auf Hochtour hat man hier vor allem das Eisschloss des Grand Combin im Fokus, und auch der kleine Bruder Petit Combin hat seine Eiswand noch nicht ganz verloren. Wer mit dem Shuttlebus von Fionnay zur Cabane Brunet hinauffährt oder bei der siebentägigen Tour des Combins hier vorbeikommt, ist diesen Eisriesen schon sehr nah. Der Glacier de Corbassière, über den früher der Weg zur Panossièrehütte und damit zum Grand Combin führte, hat allerdings so sehr an Masse verloren, dass eine 210 Meter lange Hängebrücke („Passerelle de Corbassière“) gebaut werden musste, um den Zugang zur Hütte aufrechtzuerhalten.
Zu Maria Himmelfahrt bin ich wieder einmal in diesem schönen Tal und nehme am Patronatsfest teil. Zwischen den kleinen Häusern von Fionnay ist ein Kunsthandwerkmarkt aufgebaut, und an Ständen gibt es Raclette, Croûtes au fromage (überbackene Käseschnitten) und Walliser Trockenfleisch zu essen. Marie-José ist bei mir. Sie kommt immer im August hierher und wohnt dann in ihrem Elternhaus. Fast etwas andächtig zeigt sie die Hänge hinauf: „Dort oben, in den Steinbrüchen, da hat mein Großvater gearbeitet. Er schlug Steine für den Damm heraus, damals, um 1955.“ Denn auch hier befindet sich oben mit dem Lac de Mauvoisin mit der höchsten Bogenstaumauer Europas ein großer Stausee, der wie alle großen Schweizer Stauseen der Energiegewinnung dient. Dieser See aber wurde auch angelegt, um das Val de Bagnes vor Flutwellen zu schützen, die durch Abbrüche des Giétrozgletschers ausgelöst werden könnten. So war es schon mehrmals zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert geschehen. Hinter den Eismauern staute sich jeweils ein See auf und dessen Ausbrüche verursachten oftmals im ganzen Val de Bagnes Hochwasserschäden und forderten Menschenleben. Da sich mittlerweile die Zunge des Giétrozgletschers weit nach oben zurückgezogen hat, ist heute mit diesen Abbrüchen nicht mehr zu rechnen. Nun erklärt sich auch die Bedeutung des Namens, denn Mauvoisin heißt „mauvais voisin“: „schlechter Nachbar“.
Vom herrlichen Zeltplatz Forêt des Mélèzes bei Bonatchiesse ist von all dem nichts zu spüren. Ich starte zu einer Almwanderung und erreiche über sonnige, blumen- und schmetterlingsreiche Wiesen die Écurie („Almstall“) du Crêt. Die Gemeinden des Bagnetals haben die alten Almen mit ihrer besonderen Architektur einer gewölbten Steinbauweise inventarisiert, wiederhergerichtet und einen Wanderweg, die „Tour des écuries à voûte“, ausgezeichnet.
Spuren aus der Vergangenheit
Knochenfunde wurden mit 3000 bis 4000 vor Christus datiert und stammen aus dem Mittleren Neolithikum – vielleicht lebten hier die ersten Menschen des Bagnetals. Lange spüre ich zwischen den alten Gebäuden der Vergangenheit nach. Spuren aus dem Neolithikum finden sich noch an anderen Stellen im Unterwallis, wie zum Beispiel an den sogenannten Schalensteinen, „Pierres à cupules“. Auf horizontal gelagerten Felsblöcken mit glatter Oberfläche sind tassenförmige Schalen herausgeschürft worden. Aber wann geschah dies und wozu dienten diese Schalen? Waren es Opferschalen? Am Col du Lein, westlich des Mountainbike- und Gleitschirm-Hotspots Verbier, liegt auf einer idyllischen Wiese ein solcher Schalenstein. Wer nicht mit dem Mountainbike hochfährt, nimmt den Postbus bis Levron und wandert dann noch eine Stunde durch den Wald zum Stein und netten Picknickplatz hinauf.
Die beiden nächsten Täler führen nach Italien hinüber. Während man vom Entremonttal den Großen St. Bernhard Pass meist mit dem Auto über- oder im Tunnel unterquert, bietet sich das westlich gelegene Val Ferret wiederum für eine Fülle alpiner Unternehmungen an. Über den Col Ferret gelangt man in einer leichten Wanderung in den italienischen Teil des Tals bis nach Courmayeur. Oder man klinkt sich hier in die neuntägige Tour du Montblanc ein, einmal herum um den Monarchen! Vom Camping des Glacier, der sich auf einem Schwemmkegel hochzieht, steige ich in dreieinhalb Stunden zur Cabane de l’A Neuve (2734 m) hinauf. Sie thront wie ein Adlerhorst auf einem Felssporn und hat sich seit ihrem Bau im Jahr 1926 nicht viel verändert. Dort bestaune ich die wilde Nordflanke des Mont Dolent gegenüber, in der Séracs krachend zusammenstürzen … und esse dazu die beste Heidelbeertarte meines Lebens.