Malte Roeper: An der Universität Erlangen gab es eine Studie 'Bouldern gegen Depressionen', bei der nachgewiesen wurde, dass Bouldern da tatsächlich wirkt - du dagegen hast mit Bouldern für eine Weile aufgehört, um bestimmte psychische Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.
Zofia Reych: Ich habe das Bouldern zu ernst genommen. Studien zeigen, dass Spitzensportler*innen - zu denen ich nicht einmal zähle - häufiger psychische Probleme haben als andere. Wenn dein Ehrgeiz und/oder der Druck ein gewisses Maß überschreiten, ist es eigentlich zwangsläufig schlecht. Ich habe mit einem Haufen Profisportler*innen gesprochen und vielen von denen geht es lausig.
Aber kommen die Probleme dann durch den Sport oder gab es die vorher? Und macht der Druck es schlimmer?
Es gibt natürlich beides, aber im Leistungssport hast du manchmal auch ein wirklich ungutes Umfeld. Russische Sportler*innen haben mir erzählt, was ihre Trainer veranstalten, wenn sie zugenommen haben. Sie mussten vor dem ganzen Team auf die Waage und wurden beschimpft. In so einem Umfeld war ich nie. Ich war auch nie so gut, ich hatte einfach nur die falsche Einstellung.
Du hast angefangen, als du noch in Polen gelebt hast, als Kind...
Als Kind bin ich mit meiner Mutter wandern gegangen, aber Klettern war noch nicht dabei. Mit siebzehn habe ich dann einen Kurs gemacht, hatte aber Angst. Ich habe dem Material nicht getraut: Gurt, Seil, Karabiner etc. Abgesehen von der Angst habe ich es sofort geliebt. Nach ein paar Jahren habe ich aber ausgesetzt und gesagt, es sei wegen der Schulter. Aber ich mochte das Umfeld nicht mehr, die Leute waren mir zu engstirnig und zu sexistisch.
Warst du ein unsicherer Teenager?
Nein, ich war ziemlich selbstbewusst. Trotzdem war es nicht leicht, ich war die Kleinste in der Gruppe, alle anderen waren größer. Wenn ich irgendwo nicht raufkam, sagte der Trainer, es läge an meiner Einstellung. Mit fünfundzwanzig habe ich wieder angefangen und war total besessen (lacht). Dann bin ich von London nach Sheffield gezogen.
Um im Peak District im Gritstone zu klettern?
Obwohl mir die Kletterei nicht liegt, es ist so gruselig gesichert, das kann ich total schlecht. Aber ich mochte das Gestein.
Das Women's Bouldering Festival in Fontainebleau - wo du auch ganz in der Nähe wohnst - organisierst du jetzt seit 2018. Wie finanziert ihr das?
Es ist leider zu aufwendig, um es kostenlos zu veranstalten, daher machen wir das über Tickets. Jetzt haben wir bei verschiedenen Stellen Subventionen beantragt. Falls das klappt, wäre es kostenlos. Dann müssten wir uns überlegen, wie wir die Tickets gerecht verteilen. Die Nachfrage ist jetzt schon riesig.
Ich kümmere mich um eine junge Bergsportlerin aus Afghanistan, die vor den Taliban fliehen musste, weil sie Ski gelaufen ist und einen 5000er bestiegen hat - für die wäre das sicher eine coole Erfahrung. Was müssten sie und andere Interessierte tun, wenn sie teilnehmen wollen?
Ein normales Ticket kostet hundert Euro, aber wir vergeben auch 'Stipendien'. Letztes Mal hatten wir achtzehn 'Stipendiat*innen', bei denen wir auch einen Teil der Reisekosten übernommen haben.
In Deutschland haben wir seit zwölf Jahren ein Förderprogramm für Nachwuchsalpinistinnen, das nennt sich 'Expeditionskader Frauen'. Alle Athletinnen, mit denen ich gesprochen habe, haben betont, um wieviel selbstsicherer sie in einem rein weiblichen Umfeld geworden sind.
Unser Event ist nicht 'rein weiblich' in dem Sinne, zu uns kommen Frauen und nicht-binäre Menschen.
Aber das Festival ist nicht nur - wie sage ich das jetzt? - für nicht-heterosexuelle Frauen? Sondern für alle?
Für alle, die mehr oder weniger mit dem weiblichen Geschlecht zu tun haben. Viele sind aus der queeren Community, aber es ist kein queeres Event.
Du hast öffentlich gemacht, dass bei dir eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde. So ein Event zu organisieren und durchzuführen, muss enorm energiezehrend für dich sein. Wie bewältigst du das?
Autist*innen, die nicht von vornherein allein arbeiten wie etwa Autor*innen oder Programmierer*innen, werden oft Lehrkräfte oder Schauspieler*innen: Wenn du unterrichtest oder spielst, hast du eine klar definierte Rolle und im Rahmen dieser klar definierten Rolle kannst du okay sozial interagieren. Du musst nicht überlegen, was der oder die andere von dir erwartet, das ist für uns entscheidend. Ich liebe es, dieses Event zu organisieren - wenn ich einfach nur teilnehmen würde, würde ich es hassen. Ich habe es mal auf einem anderen Event probiert, für mich war es absolut grauenhaft.
Ist es das Durcheinander, was nicht geht?
Weil ich das Festival leite, kann ich das Chaos kontrollieren. Ich kann immer behaupten, sorry, ich muss mich um irgendwas kümmern und den Raum verlassen. Das ist meine Rolle: "Ich bin busy". Wenn ich teilnehme und mich jemand begrüßt, dann wird erwartet, dass ich freundlich bin. Dann fühle ich mich in der Falle. Ich kann auch nicht damit umgehen, wenn Leute mich beim Klettern anfeuern: 'Gib alles!' Und ich denke immer: 'Halt den Mund, ich gebe sowieso alles.'
Dieses ganze Geplärre, wenn da zehn Leute um die Wette anfeuern, das ist doch in erster Linie Selbstinszenierung: die anderen sollen unbedingt mitbekommen, dass ich mindestens genau so doll mit jemand anderem mitfiebere wie sie und dass ich also mindestens genauso empathisch bin.
Ich glaub schon, dass manche da ziemlich drauf einsteigen und die werden dann wirklich von den anderen getragen wie eine Band bei einem Konzert, bei dem das Publikum abgeht. Aber mich persönlich turnt es ab.
Warum ist Klettern heute im Gegensatz zu früher überhaupt so anerkannt? Hat sich das Klettern so stark verändert oder die Gesellschaft?
Klettern und Outdoorsport haben sich in so viele Sparten verzweigt, dass irgendwie für jede*n was dabei ist. Und wenn etwas mal halbwegs akzeptiert ist, wird es vom Kapitalismus vereinnahmt - und sobald du damit Umsatz machst, ist alles prima. Du siehst ja in der Stadt auch immer mehr Leute in High-End-Funktionsjacken für 800 Euro, die sich etwas von diesem ganzen coolen Image anhängen.
Genau das zeigt ja, wie positiv das Image von uns Kletterern und Bergsteigern mittlerweile ist. Dieses Selbstbestimmte, diese Freiheit, davon wollen alle etwas abhaben oder für sich beanspruchen. Am Fels oder am Berg bist du frei von Regeln, weil du alle Entscheidungen selbst zu verantworten hast.
Regeln gibt es aber schon, und die Community ist da oft verdammt rigide. Wie verbissen auch die Jüngeren oft diskutieren, was als akzeptabel gilt und was nicht, das ist schon ganz schön seltsam.
Je kleiner eine Community ist, desto mehr brauchst du da klare Regeln, um dich von der Mehrheit abzugrenzen. Der einzelne ist innerhalb dieser Community sozialisiert und wird diese Regeln verteidigen. Weil er befürchtet, dass seine Gruppe ihre Identität verliert.
Das ist ein gewisser Tribalismus. Narzissmus spielt auch eine Rolle, aber klar, man braucht ein klares Gefühl: wer sind wir, was machen wir und wie müssen wir es machen, damit es zählt? Aber ich verstehe die Häme nicht, mit der man über andere herzieht, wenn sie zum Beispiel ein Kneepad benutzen.
Wie sieht es aus mit deinen persönlichen Zielen? Du wolltest eine 8a bouldern vor deinem vierzigsten Geburtstag.
Im Moment ist mir das Level ziemlich egal, ich genieße es einfach, wenn ich draußen am Fels bin. Ich will einfach gesund bleiben und verletzungsfrei und so lange wie möglich weiterklettern. Das Ding mit dem zu großen Ehrgeiz hab hinter mir.
Woran lag dieser Über-Ehrgeiz?
Ich geb's ungern zu, aber es lag eher daran, dass ich so klein bin. Ich wollte beweisen, dass ich stärker bin als ich aussehe.
Wurdest du in der Schule und im Kindergarten deswegen von anderen Kindern gehänselt?
Klar, ständig. Und die habe ich immer verprügelt.
Du hast Kinder verprügelt, die größer waren als du?
Ich hatte keine Wahl!
War das befriedigend?
Oh ja! Auf jeden Fall besser als andersrum. Und später gab es diesen Trotz: ich wurde als Frau wahrgenommen - ich sah ja auch so aus -, aber ich wollte das nicht, weil ich mich einfach nicht so fühle. Ich war als Teenager ganz schön durcheinander, deswegen dann auch dieser Ehrgeiz. Im Moment genieße ich das Schreiben ganz enorm. Ich möchte einen Roman veröffentlichen, an dem arbeite ich gerade. Davon habe ich immer geträumt.
Als Kind wollte ich auch schon Bücher schreiben, das war mein heimliches Ziel. Ich mochte, dass es so anders war als Bergsteigen. Und ich hatte satt, dass Bergsteigen alles andere in meinem Leben so dominierte. Ich habe zum Beispiel viel intensiver darüber nachgedacht, wie mein idealer Seilpartner - also ein Mann - sein müsste als darüber, wie ich mir meine Traumfrau vorstellen würde. Daher dachte ich eine Zeitlang, ich sei eigentlich schwul und hätte nur Angst, das vor mir selbst zuzugeben, das hat mich eine Weile wirklich beschäftigt. Jetzt sind die Zeiten anders und von dieser Öffnung profitieren wir alle: ich kann mit Schwulen und Lesben viel entspanntere Freundschaften pflegen als das früher möglich gewesen wäre. Als sie sich noch verstecken mussten.
Stimmt, aber es kommt schon auch anderes: gestern habe ich etwas gepostet über die Pronomen they/them, die wir nicht-binären Menschen im Englischen verwenden - und irgendjemand hat mir den Tod gewünscht!
Wow! Aber in Sachen Sprache kann ich auch ziemlich fanatisch sein. Wenn du Leute zum Gendern zwingst, vermurkst du die Sprache, für mich ist Sprache genauso kostbar wie Musik. Aber ein bisschen gendere ich jetzt manchmal auch: im Deutschen ist fast jedes Substantiv männlich, das einen Beruf bezeichnet, das ist nicht nur ungerecht, sondern auch schlicht unpräzise.
Auf Polnisch genauso. Autor ist pisarz, Autorin pisarka. Und ich wusste natürlich wieder nicht, was für mich passt! Wir müssen einfach anerkennen, dass Menschen eine andere geschlechtliche Identität haben können als die bislang anerkannten. Auf Englisch nutze ich die Pronomen they/them, auf Polnisch nicht unbedingt, da ist es einfach zu kompliziert. Aber diese Diskussion überlasse ich den Jüngeren, dafür habe ich keinen Kopf.
Ich kann sowieso nicht akzeptieren, wenn man anderen Leuten vorschreiben will, wie sie schreiben oder sprechen sollen bzw. wie etwas nicht mehr gesagt werden darf, das ist nichts anderes als Zensur. Manche wollen das Gendern verpflichtend machen, das ist Zensur. Andere in Deutschland wollen es per Gesetz verbieten, das ist genauso Zensur.
Es ist aber auch etwas anderes, ob du quasi öffentlich redest oder schreibst oder ob du persönlich mit jemandem sprichst.
Darauf können wir uns auf jeden Fall einigen! Ich habe mich vorher übrigens noch nie mit einer nicht-binären Person unterhalten.
Wirklich? Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, warum alle Menschen in zwei Kategorien passen sollen, ich finde das komisch.
Ich bin in den 60ern und 70ern aufgewachsen. Da war 'hetero' gleich normal und 'richtig' und alles andere unnormal und falsch. Das bedeutete für uns Heteros einen großen Bonus beim Selbstwertgefühl. Heute bilden wir Heteros diese Norm nicht mehr so wie früher, wir stehen nicht mehr für das quasi 'einzig Richtige'. Und wenn du wenig Selbstwertgefühl besitzt, kann es leicht passieren, dass du aggressiv reagierst.
Darüber habe ich noch nie nachgedacht: Wenn du nicht auf andere herabschauen kannst, fühlst du dich geschwächt. Das ist eine interessante Perspektive.
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