Blick auf eisbedeckten Siebentausender im Himalaja
Himalaja - Hochgebirge der Extreme. Eismassen und Steilflanken am Gangapurna, 7.455 m. Foto: Tobias Hipp
Interview mit Tobias Hipp, Klimaexperte im Ressort Naturschutz und Kartographie

Gletscher, Naturgefahren und Klimawandel

Anfang Februar 2021 kamen im Himalaja, im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand, nach aktueller Einschätzung mehr als 200 Menschen in einem riesigen Schlamm- und Schuttstrom ums Leben. Ausgelöst wurde die Katastrophe, die zunächst als Gletscherabbruch galt, durch den Kollaps eines Berghangs: 0,2 Kubikkilometer (200 Mio. m³) Gestein hatten sich demnach aus einer Bergflanke gelöst und sind im quasi freien Fall 1.800 Meter in die Tiefe gestürzt, bevor sie auf dem Ronti-Gletscher aufschlugen und von dort – viel Gletschereis und Geröll mit sich reißend – talabwärts schossen und das Flussbett des Dhauliganga samt dortiger Infrastruktur inklusive Wasserkraftwerken verwüsteten.

Die DAV-Online-Redaktion hat mit Tobias Hipp aus dem Ressort Naturschutz und Kartographie beim Deutschen Alpenverein gesprochen. Der Klimaexperte ist studierter Physischer Geograph. Er hat über die Auswirkungen des Klimawandels auf den alpinen Permafrost promoviert.

DAV-Online-Redaktion

Unmittelbar, nachdem das Unglück in Indien bekannt wurde, brachte man es mit einem Gletscherabbruch in Verbindung, der wiederum als Resultat des Klimawandels eingeordnet wurde. Jetzt zeigen Analysen, dass der eigentliche Auslöser der Schlamm- und Eislawine ein Bergsturz oberhalb eines Gletschers war. Sind damit die Klimawandel-Argumente vom Tisch und das Ereignis muss schlicht als trauriges Zufallsereignis eingeordnet werden?

Tobias Hipp

Größere oder kleinere Bergstürze, Murgänge oder Schlammlawinen sind in den Hochgebirgen der Welt tatsächlich ganz normale Prozesse (wir sprechen von Erosion) und immer wiederkehrende Ereignisse. Diese Ereignisse sind so per se nicht einfach direkt dem Klimawandel zuzuschreiben. Bei der Auslösung von Fels- oder Bergstürzen spielen einfach viele Faktoren und Prozesse eine Rolle, die miteinander auch noch in Wechselwirkung stehen. Aber der Klimawandel führt im Hochgebirge zu einer Zunahme der Häufigkeit sowie der Dimensionen von Fels- und Bergsturzereignissen. Zentrale Rolle dabei spielt die Erwärmung des Permafrosts – die Untergrenze des Permafrosts verschiebt sich also immer weiter nach oben.

DAV-Online-Redaktion

Noch mal zur genauen Erklärung: Wie kommen Bergstürze im (Hoch-) Gebirge zustande?

Tobias Hipp

Für das Auslösen von größeren Fels- oder gar Bergstürzen braucht es ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren und Prozessen – genau aus diesem Grund ist eine eindeutige Zuordnung zu den Folgen des Klimawandels nicht immer leicht. Zunächst muss eine geologische Instabilität im Hangbereich oder in der Felswand gegeben sein, welche eine Instabilität begünstigt – also zum Beispiel durch tiefe Klüfte und Spalten. Dann kommt eine Palette an Prozessen ins Spiel, die zu einer Verschärfung der Instabilität oder einer Auslösung führen können: (kleine) Erdbeben (davon gibt es regelmäßig welche im Alpenraum, wir spüren sie nur nicht), Extremwetterereignisse (Starkregen, Gewitter etc.), intensive Temperaturschwankungen (mehrfacher Wechsel zwischen Auftauen und Frost), die Erwärmung des alpinen Permafrosts oder der Gletscherrückgang am Hang- oder Wandfuß. Diese Prozesse finden schon immer statt in der Erd- und Klimageschichte. Felsstürze sind da aber eher Jahrhundertereignisse, große Bergstürze – also der Kollaps einer gesamten Bergflanke – eher Jahrtausendereignisse. So kam es beispielsweise vor rund 3.500 Jahren zum Eibsee-Bergsturz: rund 350 Mio. m³ Fels stürzten von der Zugspitze ins Tal, setzten eine Energie von etwa 220 Hiroshima-Bomben frei und formten die heutige Seenlandschaft. Auch der Hintersee und Zauberwald in den Berchtesgadener Alpen sind das Ergebnis solch eines Bergsturzes von Schärtenspitze und Steinberg. Von solchen Großereignissen zu unterscheiden sind also die Felsstürze: hier stürzen viel oberflächlicher einzelne Bereiche einer Felswand oder Steilhangs ins Tal. Diese Ereignisse sind im Verhältnis viel kleiner, kommen aber viel häufiger vor. So kam es an der Westwand der Drus oberhalb von Chamonix in regelmäßigen Abständen zu Felsstürzen, zuletzt 2003 (6.500 m³), 2005 (292.680 m³), 2011 (50.000 m³). 2017 kam es zu einem der größten Felsstürze seit Jahrzenten aus der Nordflanke des Piz Cengalo im Bergell mit rund 3 Mio. m³ an Felsmasse.

Einzigartige Dimensionen - besondere Gefahren. Am Horizont schießt die markante Pyramide des Dhaulagiri auf 8167 m in den Himmel. Foto: Tobias Hipp
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Zurück nach Asien: Inwiefern sind die Entwicklungen im Himalaja vergleichbar mit denen in den Alpen? Oder andersrum gefragt: Was macht die Veränderungen im asiatischen Hochgebirge so besonders?

Tobias Hipp

Die allgemeine Entwicklung und die beschriebenen Prozesse sind absolut identisch – egal ob in den Alpen, im Himalaja oder in einem anderen Hochgebirge der Erde. Doch es gibt entscheidende Unterschiede. Da wäre erstmal natürlich die Dimension zu nennen: im Himalaja ist alles um ein Vielfaches größer, höher und mächtiger. So schießt der Himalaja zum Beispiel innerhalb von nur 40 km Luftlinie von 1.000 m bei Pokhara bis über 8.000 m zum Gipfel der Annapurna I in die Höhe. Das bedeutet auch, dass Steilflanken von mehreren tausend Höhenmeter in Täler ziehen. Wenn es hier also zu einem Fels- oder Bergsturz kommt, dann ist dieser automatisch um vieles größer und katastrophaler als bei uns in den Alpen. Und dann wäre da noch die Lage des Himalaja im globalen Klimasystem: der Großteil des Himalaja liegt in den Subtropen, die Jahresmitteltemperaturen sind hier höher als in den Alpen, die Schneegrenze deutlich höher. Und wichtiger noch: der Himalaja steht wie eine monströse Barriere dem Monsun im Weg, der regelmäßig von Süden an die 8.000er herangedrückt wird und für unglaublich große Regenmengen sorgt. Dadurch ist der Himalaja tatsächlich ein Hochgebirge der Extreme – mit großen Temperaturunterschieden von subtropischen Palmen hoch zu riesigen Eiskappen in nur kleiner horizontaler Distanz, mit einer extrem steilen Topographie sowie einem ausgeprägten Wechsel zwischen Trockenperioden und Monsun mit teils extremen Niederschlagsmengen.

DAV-Online-Redaktion

Haben die klimatischen Veränderungen in den außerordentlichen Höhen des Himalaja eine andere Bedeutung als beispielsweise in den Alpen oder Rocky Mountains?

Tobias Hipp

Auch hier sind die Auswirkungen ähnlich, nur um ein Vielfaches gravierender. In den Gebirgen Hochasiens – neben dem Himalaja gehören auch das Tibetische Plateau und die Gebirge Zentralasiens dazu – befindet sich mit 7.000 km³ das größte Gletschervolumen außerhalb der Arktis.[1] Doch die Prognosen sind sehr identisch zu denen der Alpengletscher: bis 2050 wird die Hälfte dieses Eisvolumens abgeschmolzen sein, bis 2100 droht sogar der totale Verlust.[2] Ähnlich wie in den Alpen ist der Himalaja ein Wasserschloss und speist die wichtigsten Flüsse Asiens. Ungleich zu den Alpen ist aber auch hier die Dimension. Und: die Wasserversorgung von Millionen von Menschen hängt mitunter direkt vom Schmelzwasser der Gletscher ab.

Viele Bergdörfer sind der steilen Topographie ausgesetzt, wie hier in Manang/Annapurna. Foto: Tobias Hipp
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Diese Versorgung ist also gefährdet und damit die Menschen in der ganzen Region?

Tobias Hipp

Ja, und hier kommen wir dann zu einer Bedrohung, die es in den Alpen theoretisch zwar auch gibt, dort aber selten katastrophale Dimensionen wie im Himalaja erreicht: Der Ausbruch von Gletscherseen. Die langen Zungen der Himalaja-Gletscher ziehen sich so rasant zurück, dass sich die gewaltigen Schmelzwässer im Gletschervorfeld an der Moräne zu einem See aufstauen. Irgendwann hält der Moränendamm nicht mehr stand, der Stausee bricht aus und geht als Schlammlawine mit verheerenden Auswirkungen ins Tal. Im Moment geht man von mehr als 5.000 solcher gefährlicher Gletscherseen im Himalaja aus. Im Mittel schickt so eine Schlammlawine durch einen Gletscherseeausbruch 33,5 Mio. m³ an Geröll und Schlamm ins Tal (das entspricht etwa dem zwölffachen Volumen der Cheops-Pyramide).[3] In den Alpen kann sich nur ganz vereinzelt so ein See bilden und wird in der Regel schon in der Entstehung sehr schnell entdeckt und kontrolliert abgelassen. In den abgelegenen und unzugänglichen Tälern im Himalaja ist das nicht der Fall und die Entstehung eines Stausees wird nicht entdeckt. Eine Warnung oder Evakuierung der Talbevölkerung ist dann kaum möglich und meist haben diese Ausbrüche den Verlust vieler Menschenleben und gar ganzer Gemeinden zur Folge. Ein gravierender Unterschied zu den Alpen ist aber tatsächlich ein gesellschaftlicher Aspekt: die Länder und die Bevölkerung im Himalaja, unter anderen in Nepal, gehören zu den Ärmsten der Welt. Bis in große Höhen ist der Himalaja mit Bergdörfern besiedelt, die von wenig ertragreicher Landwirtschaft und Tourismus leben und die einen sehr niedrigen Lebensstandard aufweisen. Technische Maßnahmen wie Wildbachverbauungen oder ähnliches sind hier Fehlanzeige. Und jede Lawine oder Murgang bedroht automatisch ganze Ortschaften und Existenzen.

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Seien wir realistisch: schon bald wird das Unglück von den meisten vergessen sein. Gibt es dennoch etwas, das wir in Europa aus dem Ereignis im Himalaja lernen können bzw., das wir im Kopf behalten sollten?

Tobias Hipp

Aus solchen Ereignissen und den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Gletscherrückgang kann es aus meiner Sicht nur eine klare Schlussfolgerung geben: wir müssen jetzt entschlossen Maßnahmen zur Reduzierung der Klimaerwärmung treffen, um die Folgen in den Gebirgen und die Auswirkungen auf das Umland in Grenzen zu halten. Leider reichen selbst die von uns gesetzten Klimaziele nicht mehr aus, um das 2° C-Ziel zu erreichen: es braucht neue und ambitioniertere Klimaziele, um die Folgen des Klimawandels noch reduzieren zu können. Aktuell sind wir aber ganz klar auf Kurs zu einer Erwärmung um mindestens 4° C bis Ende des Jahrhunderts, selbst wenn wir unsere Klimaziele einhalten sollten. Das schafft aber im Moment kein einziges Land auf der Welt. Es ist nun endgültig an der Zeit, den Klimawandel nicht nur als Krise zu bezeichnen, sondern auch demnach zu handeln. Corona hat auf eine Art gezeigt, dass wir in Krisen, die uns direkt bedrohen, schnell als Gesellschaft handlungsfähig sind. Es ist nun Zeit, dieses Handeln auch in einer Krise walten zu lassen, die längerfristig deutlich gravierendere negative Konsequenzen haben wird als die Coronakrise.

In vielen Regionen und Bergdörfern (wie hier in Manang/Annapurna) herrscht Armut und mangelhafte Infrastruktur: Die Auswirkungen von Naturkatastrophen sind daher noch gravierender als bei uns in den Alpen. Foto: Manang/Annapurna; Tobias Hipp

Quellen

[1] Farinotti D, Huss M, Fürst JJ, Landmann J, Machguth H, Maussion F, Pandit A: A consensus estimate for the ice thickness distribution of all glaciers on Earth, Nature Geoscience, published online 11 February 2019. DOI: 10.1038/s41561-​019-0300-3]

[2] The Cryosphere, 2015; doi: 10.5194/tc-9-1-2015]

[3] https://tc.copernicus.org/preprints/tc-2020-379/