Ich bin gerne exponiert unterwegs, hoch droben, wo der Blick weit schweifen kann. Dort, wo nichts einzwängt, wo die Welt Freiheit atmet, fühl ich mich wohl. Kammrouten sind meine Königsdisziplin. Umso schöner, wenn sie gleich mehrere Tage dauern.
Beim Blick auf eine Alpenreliefkarte knautschen sich die Gebirgsfalten am stärksten in Graubünden zusammen, dem Land der tausend Täler, wie es gerne heißt. Im Gegensatz zur allseits bekannten geringen Bevölkerungsdichte scheint die Gipfel des größten Kantons der Schweiz noch niemand gezählt zu haben. Wo viele Täler, da auch viele Kämme, dachte ich mir, und zog mit meinem Partner Dieter los nach Davos im Herzen der Furchen. Nicht nur mit dem Zug wunderbar erreichbar, man kann sich auch gleich im Anschluss per Seilbahn in die Höhe hieven lassen.
Das Matterhorn von Davos
Oben geht’s von der Couchzone in die Knautschzone – das kommt einem unwillkürlich in den Sinn angesichts des Panoramas, das wie ein mächtig zerknülltes Zeitungspapier zu Füßen liegt. Traumhaft schön diese Gipfelwogen eines Gebirgsmeeres. Doch eher albtraumhaft der Nahblick. Das Weissfluhjoch wirkt wie eine Großbaustelle. Aber wahrscheinlich muss man erst das Übel bewusst bemerken, um das Schöne wertzuschätzen. So wie hier den Kontrast zwischen einem destruktiven und einem sanft erschlossenen Skigebiet, zwischen Parsenn und Schatzalp, zwischen Fast Mountain und Slow Mountain hoch über Davos. Wir sehen die Gipfel des Appenzells mit Säntis und Altmann im Nordosten, die Glarner Alpen mit dem Tödi im Nordwesten, gefolgt von den Berner Alpen mit dem Finsteraarhorn, im Süden die Eisbastion des Berninamassivs. Ganz in der Nähe sticht ein Berg ins Auge, der dem Matterhorn ziemlich ähnlich sieht. Deshalb wird das Tinzenhorn auch als kleine Schwester des Matterhorns bezeichnet.
In seine Richtung wandern wollen Dieter und ich, von Davos bis Bergün, von Kamm zu Kamm, eine geniale Viertagestour dank enormer Vielfalt. Allein schon die Gesteinsschichten und -arten, die die Berge bunt erscheinen lassen. Ihr Mosaik aus Farben und Formen fasziniert. Die Kollision der Kontinentalplatten bei der Auffaltung der Alpen hat fast zwei Dutzend verschiedene Gesteinsdecken übereinandergeschoben, verfaltet, umkristallisiert. Einen ersten Eindruck davon demonstriert uns das Strelahorn. Klasse Gratroute, hatte uns im letzten Jahr Klaus Schuster verraten. Der Wirt der Berghütte am Strelapass erlaubt sich die Tour auf den Berg vor seiner Nase gelegentlich. Anspruchsvolles und genau das richtige Terrain sei das für seinen Falco, und meint damit einen Mischlingshund mit ungebremster Energie. Schon das Schild beim Hauseingang „Hund und Herrchen bitte nicht füttern“ verrät sein humorvolles Gemüt.
Wohlfühlatmosphäre und Retro Chic
Den plattgewalzten Pisten am Weissfluhjoch schnell den Rücken gekehrt, kann man sich beim Ausblick vom nahen Strelapass wieder von Herzen freuen. Westlich blickt man in das unberührte Sapün. Einst besiedelt, erkennt man schon aus der Ferne die typischen archaischen Walser Siedlungen, die sich über das offene Weideland verstreuen. „Auch ich bin ein Walser“, betont Klausi nicht ohne Stolz. Hemdsärmelig steht er draußen auf der Terrasse seiner Berghütte – selbst bei bissiger Kälte, wo andere schon längst ihre Daunenjacken übergezogen haben. Kein zimperlicher Bursche, unkompliziert, offen und direkt – ein Mensch der Berge eben. Mit seinen Witzen sorgt der Gastwirt aus dem Kleinen Walsertal schnell für Wohlfühlatmosphäre. Ebenso seine Küche. Alles wird selbst gemacht von der Bündner Gerstensuppe bis zum Teig für den knusprigen Flammkuchen.
Einst ging am Strelapass eine Seilbahn durch, doch die wurde abgebaut. „Jetzt müssen zwar alle mindestens eine Stunde zu mir wandern, doch ich habe viel zufriedenere Gäste“, schmunzelt der Hüne mit den Kuhfell-Clogs. Rinder grasen friedlich rund um die schmucke Berghütte und pflegen damit nicht nur eine harmonische Kulturlandschaft, sondern erhöhen auch die Artenvielfalt. Dass das Gelände im Winter als Skigebiet genutzt wird, bemerkt man kaum. So wie das früher vor dem Massenandrang einmal war. Die zwei Retro-Skilifte zwischen Schatzalp und Strelapass heißen folgerichtig „Skigebiet SlowMountain“. Passend zur Nostalgie des ehemaligen Tuberkulose-Sanatoriums, das Thomas Mann in seinem „Zauberberg“ literarisch in die Weltgeschichte katapultierte. Ein fürwahr magischer Ort, den auch die Filmindustrie gerne nutzt. Jüngst drehte man hier den Spionage-Thriller „Davos 1917“.
Glasklare Bergluft und gesundes Höhenklima
Anderntags nehmen wir uns die Gratroute vom Jakobshorn über das Jatzhorn ins Sertigtal vor. Schnell ist man mit der Schatzalp-Bahn in Davos und per Bergbahn auf dem Jakobshorn. Jede Menge Leute mit Mountainbikes haben das Gleiche vor. Doch man kann ihnen kurz nach der Bergstation ausweichen auf einen schmalen Kammpfad, der Stille und pures Panoramaglück schenkt. Wie ein Bindfaden fädelt er sich zwischen Dischma- und Sertigtal zur Tällifurgga, wo man auf den „Walserweg“ trifft. Anstatt von dort abzusteigen, hängen wir noch das Tällihorn dran. Jäh fällt der Blick ins Sertig. Verwunschen liegt das Sertig-Dörfli im giftgrünen Talboden vor der mächtigen Gebirgskulisse des Hoch Ducan.
Es wirkt wie aus der Zeit gefallen. Alte, vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos, die im Walserhuus hängen, bestätigen, dass sich nichts verändert hat. Nur das Walserhuus selbst. Ein Bild zeigt es als Kurhaus. Die staubfreie, glasklare Bergluft und das gesunde Höhenklima hatten Anfang des 20. Jahrhunderts Lungenkranke zur Kur nach Davos gezogen. Unzählige Sanatorien entstanden, die in den 1940er Jahren mit der Entwicklung neuer Medikamente überflüssig und im Laufe der Zeit zu Hotels umfunktioniert wurden. Dazu gehört neben Schatzalp und Walserhuus auch das Hotel Ducan in Monstein, stellen wir am Ende fest.
Damit entpuppt sich unsere Kammroute tatsächlich als Kurhaus-Trek. Der sich, wie wir finden, zugleich auch noch als Gourmet-Trek outet. Durchgängig wird der Gaumen verwöhnt. Im Walserhuus mit köstlichen Wildgerichten wie Hirschcarpaccio oder Bündner Spezialitäten wie Chrutchräpfli. Sie ähneln gefüllten Ravioli, werden in Nussbutter und mit Sertiger Alpengourmet-Chäs serviert. Wer die deftigen Klassiker Maluns, Capuns und Gerstensuppe einfach nur kosten möchte, bestellt sich eine Trilogie in verkraftbarer Größe. So können noch die feinen Desserts Platz finden. Zur Verdauung einen Arvenlikör?
Leckereien am Bierbrunnen
An der Route über den Rinerhorngrat und das Marchhüreli am nächsten Tag läge die Hubelhütte, erfahren wir. Dort schalte und walte ein Südtiroler mit äußerst leckerer Küche. Damit wäre der Pausenstopp also klar. Von dort vier Panoramastunden später erreicht man Monstein. Noch so ein pittoresker Ort, wo man gerne länger bleiben würde. Zumal der coolste Dorftreffpunkt schlechthin.
Dafür sorgt Sebastian Degen, ein Braumeister, wie man ihn sich vorstellt. Voller Leidenschaft. Und es wundert gar nicht, dass er aus Bayern stammt. Basti, wie ihn alle nennen, kümmert sich seit Jahren um die Monsteiner Brauerei und rief den „Abend der offenen Tür“ ins Leben. Jeweils freitags trifft man sich am seit Corona-Zeiten eingeführten Bierbrunnen, Einheimische wie Feriengäste, und prostet sich zu mit Bierspezialitäten, deren lustige Namen schon zum Lachen bringen, wie Heusträffel (das Graubündner Wort für Grashüpfer), Mungga (= Murmeltier) oder Wätterguoge (= Alpensalamander). An der Herberge daneben, dem Hotel Ducan, steht dann auch „last beerstop before heaven!“. Zum Monsteiner Bier passen die Leckereien von Gastwirt Benni Schibli. Ganze Gerichte werden mit dem Hopfensaft kreiert wie Salate an hausgemachtem Bierdressing, Wätterguoge-Biergulasch vom heimischen Rind mit Thymian-Speck-Bohnen und Paprika-Spätzli. Und zum Dessert vielleicht eine gebrannte Malzcreme?
Wie gut, dass die nächste Gratroute als bester Kalorienbrenner fungiert. Der Weg über Büelenhorn und Stulsergrat bis nach Bergün frisst ordentlich Höhenmeter und Stunden. Doch was für eine Kurzweil. Da keine Seilbahn in der Nähe liegt, trifft man in der Regel nur wenige andere Menschen. Dabei bietet die Landschaft so viel Abwechslung, dass man früh starten sollte, um nicht in Zeitdruck zu geraten. Wie mächtig nun das Tinzenhorn vom Stulsergrat aus wirkt. Stolzen Hauptes bäumt es sich über dem Albulatal auf, als würde es sagen wollen: Ich bin freier als mein überlaufener Kollege im Wallis – der Unterschied zwischen Fast und Slow Mountain eben. Selbstredend, dass ich einmal das Tinzenhorn besteigen werde.
Tipps für den Bergurlaub
Alpinum – der Botanische Garten auf der Schatzalp mit ca. 5000 verschiedenen Pflanzenarten und Sorten aus allen Gebirgen der Welt
Wellness und Genuss in historischer Kulisse des Kurhauses Bergün
Historischer Einblick in die UNESCO-Bahnstrecke der Rhätischen Bahn: Bahnmuseum Albula
Interaktive Krimi-Trails für Jung und Alt, die selbstständig und kostenlos das ganze Jahr über an verschiedenen Orten in der Schweiz gespielt werden können, z.B. Krimispass in Bergün oder Filisur