Jetzt bloß nicht ausrutschen. Vorsichtig setzt Bernadette einen Schritt vor den anderen. Schließlich lauert ein senkrechter Felsabbruch unter der vereisten Querung an der Cima di Vezzana. Was gäbe sie jetzt für ein paar griffige Spikes! Eigentlich war schon gestern am Passo Rolle klar, dass der Bergwinter am höchsten Gipfel der Palagruppe einen ersten Anlauf genommen hatte.
Oberhalb der Waldgrenze rahmen leicht verschneite Kare und Rinnen den Cimon della Pala ein. Dass wir am Fuße des „Matterhorns der Dolomiten“ und nicht unten in San Martino di Castrozza starten, hat einen guten Grund. Die im Talort beginnende, bekannte Rundtour „Palaronda“ lässt den nördlichen Teil der Palagruppe aus. Bernadette und ich wollen auf unserer selbst ausgetüftelten Nord-Süd-Durchquerung aber sowohl die Cima di Vezzana überschreiten, als auch im Südteil spannende Klettersteige zwischen senkrechten Felswänden erleben. Und deswegen machen wir zuerst einen kleinen Umweg. Und zwar nach Norden zum Rifugio Mulaz.
Im obersten Val Venegia ist vom Winter noch nichts zu spüren. Im Gegenteil, der Bergherbst zeigt sich auf den Südhängen des Hochtals von seiner schönsten Seite. Warme Sonnenstrahlen und duftende Lärchen begleiten unseren Aufstieg zum Passo del Mulaz. Auf dem windigen Sattel kommen wir mit ersten Schneefeldern in Kontakt. Gerade mal fünf Gehminuten wären es vom windigen Pass runter in die warme Hütte.
Besonders beeindruckend ragen die Felsnadeln der Focobon-Gruppe in den tiefblauen Himmel. Und besonders spannend: Unser morgiger Übergang, der in die Kalkwände eingeschnittene Passo delle Farangole, glitzert ziemlich weiß.
Nachdem wir uns vom Gipfel endlich losreißen, treten wir eine halbe Stunde später ins gemütliche Rifugio Mulaz. Gerade noch rechtzeitig könnte man sagen. Denn in wenigen Tagen geht die Hütte zusammen mit den Murmeltieren in den Winterschlaf. An diesem Septemberabend sind trotz des Traumwetters außer uns nur zwei holländische Bergsteiger zu Gast. Eigentlich erstaunlich. Rosengarten und Co. sind auch im Herbst sehr beliebt. Die wilde Pala haben zeitgleich nur noch wenige auf dem Schirm.
Optimale Bedingungen
Eiskalter Fallwind weht uns am nächsten Morgen beim schattigen Anstieg zum Passo delle Farangole ins Gesicht. Dafür bereitet die Schneelage keine Probleme. Im sonnigen Val Grande lassen wir den Winter dann zwischenzeitlich ganz hinter uns. Eigentlich könnten wir jetzt weiter dem Dolomitenhöhenweg 2 zum Rifugio Rosetta folgen. Doch wie am Vortag gibt es in Sachen Bergwetter nicht die geringste Ausrede. Wir müssen einfach die Cima Vezzana überschreiten.
Der höchste Punkt der Palagruppe wird uns freilich nicht geschenkt. Zuvor müssen wir die eingangs erwähnte Querung meistern und einen sauberen Verhauer vorsichtig abklettern. Verblichene Markierungen führten uns zu einer (vielleicht früher üblicheren) Direttissima, die uns bei den verschneit-vereisten Verhältnissen Schweißperlen auf die Stirn treibt. Glücklicherweise geht alles gut. Wahrscheinlich hat die am Gipfel betende Marienstatue über Bernadette und mich gewacht. Viel zu tun hat sie diesbezüglich am heutigen Tag in der Palagruppe nicht. Auf dem schneereichen Abstieg über den Normalweg und dem Gegenanstieg zum Passo Bettega treffen wir gerade einmal zwei Bergsteiger*innen.
Noch eine letzte lange Querung an der gewaltigen Südwestflanke der Cima Corona. Dann haben wir endlich den „Altopiano delle Pale“ erreicht: das Hochplateau im Herzen der Palagruppe. Was für ein Anblick. Fünfzig Quadratkilometer Karstlandschaft breiten sich stolz vor uns aus. Auf durchschnittlich 2600 Meter Höhe bildet es die innere Lagune eines vor Jahrmillionen trocken gefallenen Korallenriffs. Vor allem aber: Direkt am Rand des Hochplateaus gelegen lädt uns das Rifugio Rosetta nach neun Gehstunden dazu ein, die Beine hochzulegen. Ich komme trotzdem ins Grübeln. Gerade einmal 150 Höhenmeter und ein knapper Kilometer wären es jetzt noch zum namensgebenden Gipfel. Ach was. Die Cima della Rosetta kann mich gernhaben! Die herbstliche Abendstimmung lässt sich auch mit einem wohl verdienten Bier auf der Hüttenterrasse ertragen.
Drinnen wird es auch heute Abend wieder sehr gemütlich. Mit den vier anderen Überachtungsgästen gesellen wir uns an einen Tisch und lassen uns von Wirtin Roberta und ihrem Team verwöhnen. Auf Italienisch, Französisch und Deutsch tauschen wir uns nicht nur über die Liebe zu den Bergen aus. Wie sich im Laufe des netten Abends herausstellt, haben Bernadette und ich für morgen das ambitionierteste Ziel. Denn um auf die Forcella Porton zu gelangen, stehen uns knapp dreihundert knackige Klettersteigmeter bevor.
Alte und neue Erinnerungen
Am letzten Tag ist aber zunächst der alte Slogan vom „Weg, der zum Ziel wird“ das Thema. Ein schmaler, teils etwas ausgesetzter Pfad führt zwischen senkrechten Kalkwänden zum Passo di Ball hinauf. Oben angekommen werden bei mir unvergessliche Bergmomente lebendig. Denn gleich in meinen ersten Sommer als Kletter-Novize hatte ich dank meines damaligen Mentors Flo das Glück, hier große Ziele wie den Gran Pilaster oder die Cima Canali zu meistern.
In Erinnerung an Bergtouren, auf denen wir nach dem richtigen Routenverlauf suchten oder wo in der Dämmerung anspruchsvolle Abstiege begannen, kommt mir die „Via Ferrata del Porton“ kinderleicht vor. Schon klar. Verlaufen kann man sich bei Klettersteigen ohnehin nicht. Aber dass kein einziger der unzählbaren Trittbügel oder Stahleil-Haken eines so langen Klettersteiges wackelt, ist nicht unbedingt die Regel. Zudem ist der Porton-Klettersteig zwar kein Spaziergang, aber auch nicht wirklich kraftraubend. Jedenfalls macht uns jeder Aufstiegsmeter riesengroßen Spaß.
Wie bestellt schälen sich die gewaltigen Nachbargipfel Sass Maor und Cima della Madonna aus den Wolken. Wie schön wäre es, noch einen Tag zu verlängern und am einzigartig gelegenen Rifugio Velo zu übernachten. So aber beginnen wir den schönen, langen Abstieg nach San Martino di Castrozza, der uns den Abschied auch nicht gerade leicht macht.