Es waren einmal zwei Brüder. Geboren in Hanau, lebten sie fortan im waldreichen Nordhessen und sammelten Geschichten, genauer: Märchen. Heute, 240 Jahre später, zählen die Schriften der Brüder Grimm zum geistigen Kulturgut – egal, wie pädagogisch korrekt man sie inzwischen finden will. Sie transportieren Moral und handeln von Recht und Unrecht, von bösen und guten Menschen, von Kindern und Hexen und immer wieder von einem großen Thema: dem Wald.
Der Naturpark Knüll liegt in der „GrimmHeimat Nordhessen“, wie sich die touristische Region nennt, und ist momentan der jüngste ausgewiesene Naturpark Deutschlands. Sein höchster Punkt ist der Eisenberg mit 635,5 Metern. Das Wort Knüll entstammt dem Germanischen und bezeichnet so etwas wie eine abgerundete Kuppe. Ein verwandtes Wort ist Knolle. Der Park wurde 2021 offiziell eingeweiht und umfasst auf rund 83.000 Hektar sanft geschwungene Basalt-Kuppen, große bewaldete Bereiche und fruchtbare Ackerlandschaft. Siebzehn Städte und Gemeinden wie Homberg/ Efze oder Bad Hersfeld liegen in seinem Gebiet. Hier wird deutlich: Im Gegensatz zu einem Nationalpark schützt der Naturpark nicht Wildnis, sondern eine von Menschen geformte und genutzte Kulturlandschaft.
Wer das Knüllgebirge durchwandert, sucht nicht das einzigartige Erlebnis wie die Besteigung eines hohen Gipfels, sondern findet in einfachen und bescheidenen Dingen Schönheit und Nachhaltigkeit: kleine Dörfer, zwischen deren Fachwerkhäusern die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Weite Blicke über Hügellandschaften, viel Ruhe und immer wieder Wald. Eine Besonderheit ist der Hutewald. Er bringt uns zurück zu den Sammlungen der Brüder. Hutewälder sind inzwischen seltene, historische Kulturlandschaften, die in Europa bis ins 19. Jahrhundert für die Waldbeweidung von Vieh genutzt wurden. Unterschiedlich große Waldlichtungen, oft mit verstreut stehenden Schattenbäumen. Mit dem ansteigenden Siedlungsdruck wurden die Lichtungen zunehmend verbunden. So entstanden aus märchenhaften Inseln im Wald unsere teils großen Halboffenlandschaften. Kaum hat man den Knüll betreten, beginnt die Fantasie zu blühen. Das Fußgängerschild, das vom Baum schier verschlungen wird, oder der Baum mit Stelzenwurzeln, der als „Ent“ wie der Baumhirte Baumbart in „Herr der Ringe“ über Bäume und Pflanzen wacht.
Lauscht man den Geschichten der Ranger*innen, wird der Wald zum faszinierenden Kosmos. Es ist bekannt, dass Bäume miteinander und mit den sie umgebenden Pflanzen kommunizieren. Nur wir können ihre Sprachen, egal, ob nun Buchisch, Tannisch oder Fichtisch, nicht verstehen. Dann steht man plötzlich im Hutewald. Die offene Lichtung, das hohe Gras, die einzeln stehenden majestätischen Schattenbäume. Ist es so dunkel und duster wie in den Waldgeschichten der beiden Brüder? Wie bei Hänsel und Gretel und den lieblosen Eltern, die heute ein Fall für das Jugendamt wären? Viele der alten Märchen sind heute bedenklich. Aber auch wenn wir glauben, es heute besser zu wissen, ist es trotzdem erstaunlich, wie tief diese Bilder in unserem Denken verwurzelt sind. Bei einer Knüllwanderung hat man Zeit, darüber nachzudenken.
Knapp vierzig Kilometer nordwestlich des Naturparks liegt der Nationalpark Kellerwald-Edersee. Etwas ungewöhnlich: Im Zentrum des zweitkleinsten Nationalparks Deutschlands (kleiner ist der Hainich) liegt ein großes industrielles Denkmal, nämlich ein künstlich geschaffener Stausee. Auf Befehl von Kaiser Wilhelm II. wurde zwischen 1908 und 1914 die vierhundert Meter lange Edertalsperre errichtet, um in Zeiten der aufkommenden Industrialisierung in den Sommermonaten über Eder und Fulda die Schifffahrt auf der Weser zu sichern und mit Kraftwerken die Stromerzeugung zu erhöhen. Mit einem Stauvolumen von zweihundert Millionen Kubikmetern ist er immer noch der drittgrößte (flächenmäßig der zweitgrößte) Stausee Deutschlands. Bis heute erfüllt er seine wasserspendende Aufgabe bestens, weshalb er im Spätherbst manchmal leer ist. Der ihn umgebende Nationalpark wurde 2004 eröffnet. Heute umfasst er eine Fläche von 77 Quadratkilometern und ist Teil der UNESCOWeltnaturerbestätte „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“.
Nahe dem Edersee mit seiner abends spektakulär beleuchteten Staumauer wandert man im Kellerwald zuweilen wie durch ein aufgeschlagenes Buch: linkerhand Buchenurwald, rechterhand Eichenurwald. An einigen schiefrigen Steilhängen über dem Edersee hat wohl noch nie eine Menschenhand einen Eichenbaum gefällt. Das erkennt man als Laie nicht, die Fachleute aber am veilchenblauen Wurzelhalsschnellkäfer. Der ist nur dort, wo wirklich sonst niemand war und wo nur Natur pur den Gang der Zeit dokumentiert: im zersetzten Mulm ausgehöhlter Baumstümpfe und Baumfußhöhlen. Die Zahl derer, die den sagenumwobenen Zeitzeugen „Limoniscus violaceus“ zu Gesicht bekommen haben, ist verschwindend. Trotzdem ist er das vielleicht wichtigste Puzzlestück der Biodiversität dieser Schutzregion.
Unser Bild vom Wald ist geprägt von der Romantik, den Brüdern Grimm oder Caspar David Friedrich. Männer, die vor knorrigen Bäumen den Mond anstarren. Wo sich heute das dicht besiedelte Deutschland erstreckt, befanden sich nach der Eiszeit Mischwälder aus Eichen, Linden und Eschen. Klimatische Veränderungen, Abholzung, Rodung, Aufforstung, Kriege, all das hatte seine Auswirkungen. Von 1400 bis 1900 lag der Waldbestand mit 26 Prozent gleichauf. Erst dann stieg die prozentuale Fläche wieder an. Der Wald ist in den letzten fünfzig Jahren um mehr als eineinhalb Millionen Hektar gewachsen. Trotzdem ist der Schwund, mitverursacht durch den Klimawandel, deutlich größer als vermutet. Damit sich spätere Generationen an den Wäldern erfreuen können, müssen die Komplexität der Zusammenhänge verstanden und daraus Konsequenzen gezogen werden. Ein Nationalpark wie der Kellerwald mit seiner greifbaren Waldgeschichte oder der Naturpark Knüll, der das Einfache bewahrt, sind Juwele, die man bei einer mehrtägigen Wanderung oder einem Waldspaziergang erleben sollte.