Die Tölzer Richtlinien gelten in dieser Diskussion oft als Synonym für die sogenannte Einfachheit, das "back to the roots" der Alpenvereinshütten. Entstehung und Hintergründen, Inhalten und Zukunftsperspektiven gehen wir in dieser Folge auf den Grund.
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Unterwegs mit der Umweltgütesiegeljury
Eine Hütte mit Auszeichnung
Folge 44 des Bergpodcasts: Das Umweltgütesiegel wird nur Hütten verliehen, deren Infrastruktur & Betrieb besonders nachhaltig sind. Wir waren mit der Jury auf der Greizer Hütte.
Alles rund ums Essen auf der Hütte
Kaiserschmarrn, Knödel & Co.
Folge 41 des Bergpodcasts: Wie kommen Lebensmittel auf den Berg? Und wie funktioniert Gastronomie in der Höhe? Hüttenwirtsleute erzählen.
Hüttenwirtsleute erzählen
Arbeiten auf einer Alpenvereinshütte
Folge 26 des Bergpodcasts: Auf zu unserem liebsten Bergziel: den Hütten. Neben romantischer Bergidylle bedeuten sie vor allem auch eines, nämlich Arbeit! Hüttenwirtsleute erzählen.
Transkript der Folge
Angela Kreß:
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge des Bergpodcasts. Schön, dass ihr wieder mit dabei seid!
Alpenvereinshütten sind für viele ein Sehnsuchtsort, ein Zuhause in den Bergen, weit weg vom Alltagsstress. Für viele sind sie ein Schutzraum, der ihnen Unterschlupf bietet, wenn sie auf einer langen Bergtour unterwegs sind. Je nachdem sind die Erwartungen und Ansprüche, die an Hütten gestellt werden, sehr unterschiedlich. Für die Verantwortlichen im DAV heißt das: Was Hütten bieten sollen und dürfen und wer dort unterkommen darf – das bietet Diskussionsstoff seit über 100 Jahren. Es ist sozusagen die Gretchenfrage der Berge: Wie viel Komfort darf's sein? Cornelia Kreß versucht in dieser Folge Antworten zu finden. Viel Spaß beim Zuhören.
Cornelia Kreß:
Hütten verbinde ich persönlich mit gutem Essen nach einem langen Bergtag, mit Wirtsleuten die einen herzlich empfangen und zu den aktuellen Wetter- und Tourenbedingungen beraten, mit Gesellschaftsspielen und netten Bekanntschaften am Abend. Und mit Schnarchern im Lager, mit miefigen Schuhräumen und einer schnellen Katzenwäsche mit kaltem Wasser. Die ganze Kombi steht für mich so krass für Gemütlichkeit. Ganz weit weg vom Alltag. Der Luxus daran ist, dass es ganz anders ist als daheim. Und natürlich, dass ich mein Essen und Trinken nicht selbst hochtragen muss, dass es warm ist wenn ich ankomme.
Bestimmt sehen das viele ähnlich, andere brauchen für das Wohlfühlfeeling eine erfrischende Dusche oder Handyempfang und wieder andere hätten es gerne noch viel spartanischer. Kurzum: Was Hütten bieten dürfen und sollen, da gehen die Meinungen weit auseinander. Darfs Auswahl beim Essen geben oder nur ein Gericht, geht vielleicht sogar ein bisschen alpine Kulinarik? Setzt man nur auf Matratzenlager oder sollte es auch kleine Zimmer geben? Wie stehts um Duschen, vielleicht sogar mit warmen Wasser? WLAN, Handy- oder gar E-Bike-Lademöglichkeit. Die Liste an Streitpunkten lässt sich gefühlt ewig fortführen und die Meinungen gehen weit auseinander.
Und in einer hitzigen und engagierten Diskussion zum Thema fällt früher oder später – meist tatsächlich eher sehr am Anfang – das Wort „früher“. Tja, wie wars denn früher? Und wann ist früher? Wenn man mit Leuten spricht, die dem Alpenverein nahe stehen, kommt da meist noch ein zweites Stichwort, nämlich die Tölzer Richtlinien. Sie werden oft synonym mit der sogenannten Einfachheit, dem back to the roots der Hütten verwendet. Crazy irgendwie – denn diese Richtlinien werden in diesem Jahr 100 Jahre alt. Waren Hütten damals wirklich so luxuriös, dass man Richtlinien brauchte, um sie wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen? Was galt vor 100 Jahren überhaupt als Luxus – und wird ein so altes Papier heute noch zu recht so viel zitiert und in Alpenvereinskreisen fast schon gehypet? Ich will ein bisschen genauer wissen, was es mit den Tölzer Richtlinien auf sich hat und fange an, ein bisschen in der Vergangenheit zu kramen.
Im Alpenvereinsjahrbuch finde ich einen Artikel zum Jubiläum der Tölzer Richtlinen, ganz schön oft lese ich darin vom „bergsteigerischen Bedürfnis“, von „Einfachheit“, ein paar konkrete Punkte aus den Richtlinien werden auch genannt: „Einfache Verpflegung“, „Lager“, „Wolldecken statt Federbetten“. Ich würde die Richtlinien aber gerne mal vollständig lesen und ein bisschen mehr vom Kontext erfahren, weil ich hab so das Gefühl, dass hier immer die gleichen Ausschnitte wiederholt werden, ohne sich den Rest überhaupt mal anzuschauen. Und überhaupt fehlen mir Infos: Was ist denn einfache Verpflegung. Und waren damals wirklich Hütten mit Einzelzimmern und Daunendecke üblich?
Also frage ich bei unserem Archiv an. Ich bekomme die Richtlinien und das Protokoll der Hauptversammlung von 1923, also dem Jahr, in dem die Richtlinien verabschiedet wurden.
Die Tölzer Richtlinien, das sind 12 Punkte, die sich um Bau und Bewirtschaftung von Hütten drehen, im weiteren Sinne auch um Naturschutz. Manches kennen wir auch heute noch, zum Beispiel die Hüttenruhe um 22 Uhr, manches ist klar aus der Zeit gefallen, zum Beispiel getrennte Lager für Männer und Frauen und manches macht deutlich, dass das Faible für die „Einfachheit“ vor allem bestimmte Menschen fernhalten sollte, da heißt es zum Beispiel „Für Sommerfrischler und Personen, die mit dem ausübenden Bergsteigertum nichts zu tun haben, sind die Hütten nicht bestimmt. Sie sind von ihnen tunlichst fernzuhalten“. Okay. Ich schau also im Protokoll der Hauptversammlung, ob die Diskussion um die Richtlinien ein paar tiefere Einblicke gibt. Und ja, es ist ein Dokument von 1923 und ich hätte damit rechnen können, aber trotzdem wird mir mulmig als ich die Frakturschrift sehe. Und es wird nicht besser, während ich das Protokoll lese. In vielen Aussagen trieft es schon zu dieser Zeit vor Antisemitismus und Nationalismus. Die historischen Quellen alleine reichen mir glaube ich nicht, um Entstehung und Sinn der Richtlinien zu verstehen und einen Eindruck zu bekommen, warum sie heute noch so oft als wichtiger Meilenstein im Alpenverein genannt werden.
Ich brauche also Leute, die mir verschiedene Blickwinkel auf die Tölzer Richtlinien ermöglichen. Und deshalb spreche ich mit Max Wagner vom Alpinen Museum, der mir erzählen kann, wie es damals auf Hütten zuging und wie die Stimmung im Alpenverein vor 100 Jahren war. Außerdem mit dem Vorsitzenden der Sektion Bayerland, Till Rehm. Die Sektion war bei der Entstehung der Richtlinien weit vorne mit dabei und steht auch heute noch im DAV für das Bergsteigen der strengeren Richtung, das auch aus den Tölzer Richtlinien sehr deutlich rauszulesen ist. Nachdem es auch viel darum geht, was Hütten bieten dürfen, frage ich Gernot Auer, den Wirt der Höllentalangerhütte nach seiner Einschätzung. Und zu guter Letzt spreche ich mit dem DAV-Präsidenten Roland Stierle, der mir erklären kann, ob und was aus den Richtlinien von damals heute noch wichtig ist.
Max, danke dass du dir die Zeit nimmst, mein Geschichtswissen etwas aufzufrischen. Es fühlt sich für mich ja schon fast ein bisschen historisch an, wieder hier in der alten DAV-Bundesgeschäftsstelle zu sein, wo ihr zwischenzeitlich eingezogen seid, bis der Museumsumbau abgeschlossen ist.
Aber zu den ernsten Dingen: Ich muss sagen, dass mich das Wording im Hauptversammlungsprotokoll ziemlich geschockt hat. Kannst du mir eine Einordnung geben, was 1923 gesellschaftlich und im Alpenverein so los war?
Max Wagner:
Ja, gern. Die Anfänge der Tölzer Richtlinien von 1923 liegen eigentlich im Bergsteigen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das Bergsteigen veränderte sich damals, besonders die Idee dessen, was Bergsteigen ist und warum es gemacht wird. Man suchte bewusst gefährlichere Wege, um diese in Anführungszeichen „zu bezwingen“. Bergsteigen war zu der Zeit etwas Heldenhaftes, das eng mit dem Abenteurer- und Heldenbild des Kaiserreichs verbunden ist. Die Bergsteiger*innen wollten sich abheben, sich beweisen, jemand sein. Und sehen sich selbst dabei als eine Art Elite.
Im Zuge der Niederlage des Ersten Weltkriegs verschärft und radikalisiert sich diese Anschauung. Bergsteigen gilt im Alpenverein ab spätestens 1919 Heilmittel, um das in Anführungszeichen „am Boden liegende Deutsche Volk zu neuer Stärke zu führen“. Man glaubte also, die Härte des extremen Bergsteigens sollte Vorbild für ein in Anführungszeichen „Volk“ sein und das verbessern. Damit wurde es nationalistisch aufgeladen und natürlich auch völkisch aufgeladen.
CK:
Das macht mein Bild vom DAV damals und auch von den Tölzer Richtlinien nicht besser.
MW:
Diese Bergsteiger*innen sind eigentlich eine Minderheit im Alpenverein, sie gründen aber 1919 sektionenübergreifend eine - heute würde man sagen Interessengemeinschaft - die Bergsteigergruppe, die hatte enormen Einfluss im Alpenverein und hat dessen Ausrichtung in den 20er und 30er Jahren massiv prägt.
CK:
Okay, also Spaß und Leidenschaft für die Berge stehen eher hinten an, oder? Es geht in den Richtlinien ja auch viel um Erschließung und Ausstattung. War das tatsächlich eine Zeit, wo viel erschlossen wurde und die Hütten eher luxuriös waren?
MW:
Teils - Es gab damals durchaus einige Hütten, die gehobener ausgestattet waren, schließlich waren viele Mitglieder und Funktionäre aus dem höheren Bürgertum. Aber ebenso gab es äußerst schlichte Hütten. Liest man die Berichte von den einzelnen Hütten wird ersichtlich, dass zum Beispiel Einzelzimmer mit Federbetten damals ganz und gar nicht der Standard gewesen sind.
Aber schon zu dieser Zeit mussten die Hütten mehr und mehr erweitert werden, da die Zahl der Besucher*innen anstieg. Zwischen 1919 und 1925 haben sich dann die Übernachtungszahlen auf den Hütten verdoppelt. Das hat die Diskussion sicherlich extrem verschärft. Seit der Hauptversammlung 1919 gab es deshalb jedes Jahr Anträge, Richtlinien für Hütten und Wegen zu erlassen, um die Zahl der Bergbesucher*innen zu reduzieren – also Personen bewusst nicht mehr auf die Hütten zu lassen, oder halt auszugrenzen. Und wie zum Teil heute eben auch noch glaubte man, dass das am besten funktioniert, indem man den Aufenthalt möglichst unbequem oder beschwerlich gestaltet.
Insofern kann man die Tölzer Richtlinien auch als Bruch mit der Satzung oder dem Gründungsgedanken lesen, der besagt hat, alle teilhaben zu lassen.
CK:
Wie lang galten die Tölzer Richtlinien denn überhaupt?
MW:
Im Grunde gelten die Tölzer Richtlinien noch heute, sie heißen nur anders und wurden so oft überarbeitet, dass nur noch wenige Punkte davon gültig sind. Beispielsweise eben die Hüttenruhe, Selbstversorgungsrecht, Winterraum oder Bergsteiger*innenessen. Aber sie waren ein Start, verbindliche Hütten- und Wegeordnungen für den Alpenverein festzulegen, die die vorherigen Leitlinien gebündelt und konkretisiert haben.
Zugleich werden die Richtlinien von 1923 auch – würde ich sagen - in ihrer Aussagekraft stark überschätzt. Man beschloss in einer Hauptversammlung, in der die Stimmung hochgekocht war, scharf formulierte Richtlinien, die abschreckende Wirkung haben sollten. In der Realität sah die Umsetzung dann ganz anders aus, es wurde fleißig weitergebaut und erschlossen. Dazu vielleicht ein kleines Beispiel Beispiel: Nach der Verabschiedung der Richtlinien 1923 entschieden zunächst mal die Sektionen, ob für ihre Baupläne ein, Zitat „bergsteigerisches Bedürfnis“, wie es in dem Dokument eben heißt, vorliegt. Es gab also kein Kontrollorgan. Und insofern wurde auch fleißig weitergebaut, weil ein bergsteigerisches Bedürfnis konnte eigentlich alles sein. Dafür definieren die Richtlinien von 1928 das bergsteigerische Bedürfnis für die Errichtung einer Hütte sehr offen, nämlich dass es Gipfel in der Nähe geben muss, die bestiegen werden können, dass die Hütte den Aufstieg dahin erleichtert oder im Vergleich zu anderen Hütten verbessert. Also wahnsinnig offen formuliert.
CK:
Okay, also viel Wirbel um nichts?
MW:
Ja, kann man grob so sagen. Also die Tölzer Richtlinien von 1923 würde ich sagen werden heute oft als Schlagwort genutzt, um Forderungen nach Einfachheit auf Hütten zu unterstreichen. Sei es aus Gründen, weniger Besucher*innen in den Bergen haben zu wollen, sei es aus Nachhaltigkeitsaspekten oder aus kulturpessimistischen Motiven, die ja heute immer noch nicht verschwunden sind.
Die Richtlinien wurden bereits '25 abgeschwächt, da sich Sektionen, die auch erschließen wollten – eine Hütte hat ja einen enormen Wert für das Vereinsgefühl nach innen – die haben sich beschwert, diese Sektionen. Sie fühlten sich von den elitären Positionen vor den Kopf gestoßen. Kernpunkt der Diskussionen war dann eigentlich, was eigentlich ein bergsteigerisches Bedürfnis – wie es in den Richtlinien von 1923 heißt – und was ein Bergsteiger eigentlich sei.
1925 wird dann eine Definition des Bergsteigers festgelegt, die dann auch von der Bergsteigergruppe festgelegt wird. Ich hab dir hier ein paar Zitate mitgebracht. Bergsteiger ist - laut der Bergsteigergruppe - Zitat „jeder junge angehende Kletterer und ebenso auch der Veteran der Berge, der harmlose Jochbummler wie der eis- und wintererprobte Hochturist, der Gebirgler und der Städter des fernen Flachlandes, wenn einer nur um der Berge willen in die Berge geht.“ Zitat Ende. Also von den Ankündigungen, wer da alles von den Hütten ausgeschlossen werden soll, ist da kaum noch was übrig.
CK:
Ah, schön, dann gehör ich ja doch wieder dazu.
MW:
Ja, und durchaus unterhaltsam wird es dann auch, wenn man sieht, wofür und wogegen damit alles diskutiert worden ist.
Es wurden 1925 Beschlüsse erlassen, die der Einfachheit, wie wir sie jetzt 1923 herauslesen würden, entgegenstehen müssten, nach unserem heutigen Verständnis. Mit Rücksicht auf die damalige Zeit wurde beschlossen, dass eine angemessene Verpflegung durchaus bergsteigerisches Bedürfnis ist, genauso wie Hygiene oder die Möglichkeit zur Ruhe. Gerade die Möglichkeit zur Ruhe wurde im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse angepasst, also die Einrichtung von Matratzenlagern sowie eben auch die von kleinen und großen Zimmer mit Decken. Schließlich galt es als bergsteigerisches Bedürfnis – da hab ich dir auch was rausgesucht - Zitat „seine Bergfahrt in möglichst leistungsfähigem Zustand anzutreten.“
Das heißt, wenn ich in einem Lager mit vielen anderen Personen liege und jemand die ganze Nacht schnarcht, finde ich natürlich weniger Schlaf, was meine Leistungsfähigkeit am nächsten Tag sicherlich beeinträchtigt. Insofern ist mit Schnarcher*innen in einem Raum schlafen zu müssen, gegen das bergsteigerische Bedürfnis.
Selbiges gilt für die Diskussion um die Körperpflege. Die fand damals auch schon Einzug in die später ausformulierten Tölzer Richtlinien. Was interessant ist, weil ja heute die Tölzer Richtlinien auch immer beim Thema Duschen auf Hütten genannt werden. Da heißt es drin, Zitat „Badegelegenheit ist erwünscht. Eine Sondergebühr für die Benützung darf nur erhoben werden, wenn warmes Wasser verabreicht wird.“ Zitat Ende. Noch 1954 ist als Ausstattung für Bettenzimmer vorgeschrieben, dass ein Handtuch pro Person von der Hütte bereitgestellt werden muss. Das heißt, damals musst man das eigene Handtuch nicht mit hochschleppen, sondern man hat es gestellt bekommen, nach den Tölzer Richtlinien.
CK:
Also von wegen Einfachheit!
MW:
Das ist sicherlich nicht das, was sich heute unter den Tölzer Richtlinien vorgestellt wird, wenn wir heute von ihnen sprechen, aber eben in ihnen enthalten.
Trotzdem kann man sagen, trotz all dieser Skurrilitäten: Die Diskussionen darüber, wie viel erschlossen werden soll, haben einen erheblichen Teil dazu beigetragen, die alpine Natur als etwas Schützenswertes zu begreifen. 1977 wird dann verkündet, Zitat „Die Erschließung des Alpenraums ist für den DAV abgeschlossen. Er lehnt deshalb weitere Hüttenneubauten ab.“ Zitat Ende.
insofern kann man sagen, ja, Tölzer Richtlinien heiße Luft, gleichzeitig aber auch irgendwie was, was eine Reflektion über bestimmte Punkte angestoßen hat.
CK:
Daraus schließe ich für mich schon mal, dass nichts so heiß gegessen wird wie es gekocht wird. Trotzdem hab ich das Gefühl, dass jemand wie ich, der einfach die Berge genießt ohne krasse alpinistische Leistung damals nur so halb willkommen war im DAV. Wie gut, dass es heute anders ist. Oder?
Till Rehm:
Die Sektion Bayerland zeichnet sich vielleicht dadurch ein bisschen aus, es ist eine sehr kleine Sektion, sie verstehen sich als aktive Bergsteiger. Es ist nicht ganz trivial, da Mitglied zu werden, man muss einen Fahrtenbericht abgeben und dadurch auch nachweisen, dass man wirklich aktiv ist und ein gewisses Niveau hat. Also es ist schon so n bissl ein elitäres Gehabe, sag ich jetzt mal, das nach wie vor bei uns wichtig ist. Wir grenzen uns sozusagen ein bisschen gegen die ganz Großen ab, dadurch, dass wir sagen, wir wollen auch nicht jeden aufnehmen, man kann bei uns nicht auf der Website mit einem Klick Mitglied werden, sondern wir wollen eigentlich wissen, wer dabei ist. Wir sind 370 Mitglieder in etwa, also ein sehr überschaubarer Verein. Das ist nicht nur positiv natürlich, das hat auch ein paar Skurrilitäten vielleicht, aber das ist sozusagen das Alleinstellungsmerkmal.
CK:
Das ist Till Rehm, Vorsitzender der DAV-Sektion Bayerland. Ich erreiche ihn auf seiner Arbeit auf dem Schneefernerhaus auf der Zugspitze. Nach seiner Vorstellung der Sektion bin ich mir sicher, dass ich bei Bayerland nicht so gut aufgehoben wäre, aber das macht ja nichts. Das ist ja das Schöne an so einem großen Verein wie dem DAV – für alle gibt es die passende Nische.
Aber zurück zu den Tölzer Richtlinien. Till, magst du mir einmal erklären, wie die Sektion Bayerland denn zu den Tölzer Richtlinien steht?
TR:
Ja, ich war natürlich damals nicht dabei, aber die Sektion Bayerland war schon ein bisschen die treibende Kraft dahinter, dass diese Richtlinien damals auf der Hauptversammlung in Tölz 1923 verabschiedet worden sind. Und auch damals hat es schon ein bisschen mit geklungen, was ich gerade angedeutet habe: Man wollte sich bestimmt abgrenzen gegenüber den anderen, also den Bergsteigern, die man vielleicht nicht so ernst genommen hat. Da steht ja auch, glaube ich, drin, man will Sommerfrischler von den Hütten fernhalten. Da war der Grundton schon: Wir wissen, dass das gut ist, was wir machen, und wir wollen die anderen eigentlich gar nicht dabei haben.
CK:
Das ist jetzt die historische Perspektive –
TR:
In der damaligen Diskussion um diese Richtlinien, da muss man auch sehen, die Leute, die das vorangetrieben haben, und das waren natürlich auch - teilweise hatten die ganz andere Motive, da ist schon sehr völkisch und auch nach dem Krieg revisionistisch argumentiert worden. Dass es das deutsche Wesen ist, dass man da hart unterwegs ist und sich nur mit kaltem Wasser wäscht. Und wir kämpfen hier gegen die Zersetzung durch irgendwelche Weicheier, die auf unseren Hütten da rumlungern. Also das finde ich, gehört zu der Diskussion auch bisschen dazu, dass die Diskutanten sozusagen auch sehr zwiespältige Leute gewesen sind – wenn man nicht sogar sagen muss, das sind welche, mit deren Einstellung kann man heutzutage gar nichts mehr anfangen und die haben vielleicht die richtigen Ideen transportiert, aber aus den völlig falschen Motiven.
CK:
Die echten Bergsteiger und das bergsteigerische Bedürfnis – das sind zwei Stichwörter, die in den Tölzer Richtlinien ständig auftauchen. Was ist denn das bergsteigerische Bedürfnis für dich?
TR:
Das ist natürlich wirklich eine sehr gute Frage, denn da hat sicherlich jeder eine völlig andere Meinung dazu. Und bei uns gibt es auch so einen Satz in der Satzung, dass wir nur ausübende Bergsteiger strengerer Richtung aufnehmen - und auch da steht natürlich nicht genau, was damit gemeint ist und jeder wird das anders interpretieren. Und vermutlich ist es jetzt bei den Hütten genau das Gleiche. Was ist denn wirkliches Bergsteigertum und an welcher Stelle ist eine Hütte jetzt notwendig und wo ist sie verzichtbar? Also da kann man natürlich trefflich darüber streiten und ich glaube, das ist bei den Tölzer Richtlinien nicht anders. Also da sind viele sehr gute Gedanken drin, da sind aber sicher auch viele Sachen drin, die sind längst überholt und man muss das Ganze, glaube ich, als ein historisches Dokument sehen. Aber andere Dinge, was du gerade angesprochen hast, die Hütten sollen nur noch da gebaut werden, wo sie unbedingt notwendig sind - heute steht in der Satzung oder im Leitbild vom DAV „die Erschließung der Alpen mit Hütten ist abgeschlossen“, also das ist ja der gleiche Gedanke, man muss nicht immer mehr und mehr bauen, nur weil jetzt da eine Nachfrage herrscht, sondern man muss vielleicht auch das Schützen, was noch einsam und verlassen und nicht so gut zugänglich ist.
CK:
Dass die Erschließung abgeschlossen ist, hat der DAV für sich ja schon 1977 beschlossen. Findest du, das kam zu spät – haben wir zu viele Hüttenstandorte in den Alpen?
TR:
Es ist vielleicht nicht die die Anzahl der Hütten, sondern es ist ein bisschen die Qualität der Hütten. Ich denke schon, es gibt einen Haufen Hütten, die sind wirklich verzichtbar vom alpinistischen Gedanken her, die sind einfach nur für den Tourismus wichtig und werden auch so genutzt, also die werden nicht von Bergsteigern genutzt, sondern von Leuten, die halt einfach eine Unterkunft brauchen. Dazu zählen mit Sicherheit viele Hütten, die jetzt mittlerweile in Skigebiete reingekommen sind. Die waren vielleicht in dem Moment, wo sie gebaut worden sind, ein toller Stützpunkt, aber jetzt sind das Unterkunftshäuser für Pistler, für Leute, die halt einfach mit dem Skilift rumfahren wollen. Da ist nicht ganz klar, warum der Alpenverein so eine Hütte betreuen oder vielleicht auch mitfinanzieren muss.
CK:
Die Sektion Bayerland besitzt ja auch Hütten – wie gestaltet ihr die?
TR:
Also wir haben tatsächlich zwei private Hütten, die nur für Sektionsmitglieder gedacht sind. Das, was unser Aushängeschild vielleicht ist, ist die Fritz-Pflaum-Hütte im Wilden Kaiser. Das ist eine Selbstversorgerhütte, die im Prinzip wie ein Winterraum zu betrachten ist. Man sollte tunlichst ein bisschen Holz mit rauf tragen, wenn man aufsteigt. Es gibt minimalen Komfort da oben, aber das ist für mich schon auch ein ganz anderes Hüttenerlebnis, wenn ich da alles rauf tragen muss, was ich essen möchte, was ich trinken möchte, was ich verheizen möchte. Ich muss mir selber erstmal den Ofen einschüren. Das ist für mich schon so ein bisschen das eigentliche Hüttenerlebnis - nicht, dass ich gemütlich reinkomme in eine warm geheizte Stube und mich hinhocke und sag „jetzt her mit dem Kaiserschmarrn und ein Schnapserl mog i a no“.
CK:
Eine Hütte, auf der man schon mit einer eingeheizten Stube, einem leckeren Essen und wer mag einem Schnaps begrüßt wird, ist die Höllentalangerhütte. Und dahin mach ich mich auf den Weg um mal mit Gernot, dem Hüttenwirt über die Tölzer Richtlinien zu sprechen. Die Hütte ist ein wichtiger Stützpunkt für den anspruchsvollen Aufstieg zur Zugspitze über den Höllentalferner. Für mich wird’s zumindest diesmal nur eine Tagestour, von München geht’s mit der Regio nach Garmisch und von dort weiter mit der Zugspitzbahn nach Hammersbach. Der Weg durch die Klamm und zur Hütte ist gut angelegt und auch für viele Tourist*innen und Familien attraktiv. Entsprechend gut besucht ist die Hütte. Heute ist es ein bisschen regnerisch aber das macht nichts, auf dem Weg durch die Höllentalklamm zur Hütte wird man eh nass und unter der Woche bei Regenwetter stehen die Chancen ganz gut, dass Gernot auch ein bisschen Zeit zum Plaudern hat.
In der kleineren Gaststube sind wir alleine und sitzen bei einer heißen Schoki zusammen.
Gernot erzählt mir, wie er im Grunde mit Alpenvereinshütten aufgewachsen ist.
Gernot Auer:
Mein Vater war früher auf der Braunschweiger Hütte, die ist bei uns im Tal. Er ist da aufgewachsen und dadurch haben wir Hütten so in der Wiege mitbekommen, sage ich mal. Da hat man immer wieder darüber gesprochen, eigentlich wär’s mal wieder schön eine Hütte zu haben und dann war die Sektion München da und dann ist er über den Thomas Gesell auf die Höllentalangerhütte gekommen. Dort war er 10 Jahre und ich war halt auch immer mit dabei, hab eine Lehre gemacht und mich ein weitergebildet, war in Amerika und solche Sachen. Aber wenn ich Zeit hatte, hab ich da immer mitgearbeitet – bei der alten dann nicht mehr so viel, bei der neuen dann immer mehr. Und dann ist die Sektion auf mich zugekommen und hat gefragt, ob ich selber mal eine Hütte machen möchte und dann war eben die Knorrhütte ausgeschrieben. Ich hab das dann meiner Freundin haben wir uns beworben und das ist aufgegangen und dann waren wir vier Jahre auf der Knorrhütte. Dann haben wir Nachwuchs bekommen und mein Vater hat das auch nicht mehr so geschafft alleine hier, weil es doch sehr viel ist, sehr fordernd, eine große Hütte mit viel Tagesgeschäft. Und seitdem sind wir da oder bin ich da.
CK:
Das sind ja sehr unterschiedliche Hütten oder? Also die Lage von der Region her ähnlich, aber von den Bedingungen -
GA:
Mhm, genau, ganz anders. Die Knorrhütte ist das Urgestein Deutschlands, kann man sagen, ist auch die älteste Alpenvereinshütte Deutschlands. Und ich bin quasi von der ältesten Hütte auf die neuste Hütte gezogen. Die Bedingungen sind einfach anders, weil auf der Knorrhütte bist du mit dreimal Hubschrauberversorgung sehr eingeschränkt, was das Angebot betrifft. Wir hatten logischerweise viel Konserven und solche Sachen, frischer Salat, frisches Obst war halt Mangelware. Aber wir haben es doch irgendwie toll und ganz gut hinbekommen, mit der kleinen feine Karte. Die Gäste waren rundum zufrieden und wir haben immer gutes Feedback gehabt. Daneben auf der Hölle ist es ganz anders, ganz anderes Klientel als auf der Knorrhütte. Ich sage, es gibt Wanderer und Bergsteiger – das sind zwei ganz unterschiedliche Typen. Die Bergsteiger sind eher Alpinisten, die sich schon auskennen, die oft in den Bergen sind, auf ganz urigen, normalen, ursprünglichen Hütten, wie man es halt so aus dem Bilderbuch kennt, sag ich mal. Auf der Knorrhütte waren die Leute auch sehr mit wenig zufrieden oder mit einfachen Gerichten waren sie gleich mal sehr zufrieden und hier auf der Höllentalangerhütte ist es ein bisschen anders. Dadurch dass wir sehr, sehr viele Tagesgäste haben, die oft auch Touris sind oder Wanderer, die das erste Mal auf eine Hütte gehen, die sehen das oft ein bisschen anders. Die möchten dann schon einen frischen Salat, vegetarische, vegane Küche. Trotzdem sind auch die traditionellen Gerichte, die nach wie vor boomen und das erwarten sich die meisten auf einer Hütte, einen Knödel, Kasknödel, Speckknödel mit Salat, solche Sachen, oder Kaiserschmarrn logischerweise, läuft wie blöd, sag ich mal. Das ist immer noch so.
CK:
Da sind wir jetzt schon fast bei den Tölzer Richtlinien mit den Bergsteigern. Da wird ja auch ganz viel geschrieben, die Speisekarte zum Beispiel soll auf das bergsteigerische Bedürfnis angepasst sein. Was würdest du darunter verstehen?
GA:
Was ist das, was ist das bergsteigerische Bedürfnis? Ein ganz normales menschliches Bedürfnis ist Trinken und Essen. Aber Bergsteiger? Ja – was ist das? Also wenn er kommt, dann hat er erstmal Durst, das ist mal das Erste. Wenn’s nicht gleich ein Bier ist, aber Wasser oder Skiwasser oder was auch immer. Dann hat er Hunger, da will er vielleicht eine Suppe denk ich, die gibt gleich mal Kraft, vielleicht noch was Süßes noch dazu. Also ja, das ist sehr schwer zu sagen, was ist das Bedürfnis? Einfach logisch gedacht, wenn du selber auf eine Hütte kommst, hast du Durst, willst gemütlich was essen und dann bist du glaube ich schon gleich mal zufrieden.
CK:
Was meinst du wäre los, wenn du sagen würdest, du hältst dich an diese sehr einfache Speisekarte, wie sie in diesen Richtlinien gefordert wird und hast nur noch so zwei, drei verschiedene Gerichte.
GA:
Ja, dann werde ich wahrscheinlich am Monatsende zu machen können und das Personal nicht mehr zahlen können, weil dann kommt da glaube ich keiner mehr. Wie gesagt, gerade hier in Garmisch und Umgebung, wo viele Leute nur für einen Wochenendurlaub hinkommen oder nur vier, fünf Tage mit der Familie, die wollen natürlich ein bisschen was geboten haben. Also mit diesen Richtlinien wär dann glaube ich gleich mal finish bei uns.
CK:
Bei den Alpenvereinshütten läuft es ja so, dass die Sektionen die Übernachtungskosten bekommen und ihr die Bewirtschaftung. In den Richtlinien steht was von, der Pachtschilling soll so festgesetzt werden, dass man eben diese einfachere Bewirtschaftung auch durchsetzen kann. Gibt es eine Grenze wo du sagen würdest, wenn die Pacht so niedrig wäre, würde ich mich auf eine einfache Bewirtschaftung in Form von einem reduzierten Angebot zum Beispiel einlassen oder ist es sowieso ein No-Go?
GA:
Man macht das ja, man muss ja Hüttenwirt sein, das ist ja ganz eigene – das sind ganz eigene Leute, ganz eigene Personen. Da musst du ein bisschen einen Knall haben, sonst geht es ja nicht, gell [lacht]. Du musst immer da sein, auch beim Sauwetter – jetzt wie es die letzten drei Tage war, oben angezuckert - wo dann im Tagesgeschäft gar nichts ist. Und dann hast du dann mal schöne Tage und dann wieder diese drei Gerichte, hast nur vier, fünf Mitarbeiter wahrscheinlich, weil da nichts mehr los ist. Und irgendwie geht es trotzdem, irgendwie, aber das ist dann einfach – da fehlt was, da geht dann was uns alle ausmacht einfach unter. Das würde für mich nicht in Frage gekommen, dass man sagt, okay passt, du zahlst minimal Pacht und darfst dann nur drei Teller haben, oder nur einen Einheits-Teller, wo wie in der Kantine, da ist die Suppe drin, da ist der Salat drin – also das ist ja fast militärisch, das ist ein bisschen kriminell. Finde ich nicht gut, würde ich sicher nicht machen.
CK:
Ein Hüttenwirt ist also auch Gastgeber, klar, und er will zufriedene Gäste. Für Gernot ist klar, dass eine Hütte nicht wie eine Wirtschaft im Tal ist, die Ressourcen sind begrenzt, der Lebensmitteltransport aufwendig. Aber was die Hütte hergibt, nutzt er gerne, um seinen Gästen das zu bieten, was sie haben wollen. Deshalb gibt’s vom Gulasch bis zu veganen Gerichten für jeden Geschmack etwas. Mit einem Wasserkraftwerk, das genügend Energie erzeugt und einer Materialseilbahn, die die Lebensmittel herauftransportiert, kann er so ein Angebot gut umsetzen. Auf anderen Hütten ist das schwieriger, auch auf der Knorrhütte, wo er davor war und die mit dem Heli beliefert werden muss. Versteht man die „einfache Verpflegung“ aus den Tölzer Richtlinien als eine ressourcendeckende Verpflegung, ist es ganz krass von der Infrastruktur und Lage der Hütte abhängig, was einfach ist.
Eines möchte ich von Gernot noch wissen:
Einen Punkt habe ich noch aus den Richtlinien, der sich bis heute gehalten hat, und zwar die Hüttenruhe um zehn Uhr. Das hab ich auch gleich gemerkt, als ich hier reingekommen bin, das Schild „Hüttenschluß 22 Uhr“ - auch noch schön mit scharfem ß geschrieben, dass deutlich wird, dass das schon lange gilt. Was hältst du davon?
GA:
Für uns ist die Hüttenruhe einfach Gold wert. Punkt zehn jeder raus, dann wird geputzt, dann hocken wir uns als Team nochmal zusammen, jeder ein kleines Bier, ein Glas Wein oder was, da kann man den Tag Revue passieren lassen, gemütlich abschließen. Für den Kopf ist das so wahnsinnig wichtig, und für die Gäste sowieso, die wollen Ruhe. Und das muss bleiben für mich.
CK:
Dein Fazit von diesen Richtlinien?
GA:
Wie gesagt, die Hüttenruhe ist super, das passt. Auch diese Einfachheit beim Schlafen, bei den Lagern, bei den Betten, dass man nicht so ein King-Size-Bett für die Gäste braucht, finde ich super, keine Ultra-Wolldecke oder was weiß ich – ich war beim Bundesheer, da haben wir auch ganz einfach geschlafen, man hat trotzdem immer gut geschlafen, weil man halt müde war und das ist bei uns ja auch der Fall. Ein paar so Sachen sind sicher richtig, auch nach wie vor. Ein paar Sachen kann man nicht auf jede einzelne Hütte runterbrechen. Jede ist anders frequentiert, jede ist anders versorgt – das geht nicht auf jeder Hütte. Und ich glaube, das würde auch ganz viel zerstören, was den Flair und die Hütte eigentlich ausmacht.
CK:
Den Rückweg ins Tal starte ich am frühen Nachmittag, es hat aufgehört zu regnen und zwischen den Wolken spitzt sogar ein bisschen die Sonne durch. Die große Gaststube und die Terrasse der Hütte sind voll. Von top ausgerüsteten Bergsteiger*innen, die so aussehen als hätten sie noch größeres vor, bis hin zu Leuten, die heute vielleicht das erste Mal in den Alpen sind. Ich persönlich finde es schön, dass die Alpen mit Hütten wie der Höllentalangerhütte für alle erlebbar sind.
Aber natürlich kenn ich auch die anderen Positionen: Die, die Berge lieber für sich alleine haben, die, die meinen, dass Alpenvereinshütten zu Berghotels geworden sind. Hm, wie sieht das denn der Chef von dem Ganzen? Roland Stierle, der Präsident des DAV, ist gerade von einer Pressekonferenz gegen weitere Erschließungen in Südtirol zurückgekommen und nimmt sich eine Stunde Zeit, bevor es zum nächsten Termin nach Bern zur Kletter-WM geht.
Roland, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst! Ich hab ja jetzt schon mit ein paar Leuten gesprochen, verschiedene Perspektiven gehört. An manchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass vor allem früher aber zum Teil auch noch heute, manche Menschen in den Bergen und auf Hütten nicht so willkommen sind. Jetzt kannst du für den DAV sprechen: Wer ist denn willkommen?
Roland Stierle:
Das ist keine Frage, wer auf den Hütten willkommen ist, eine relativ einfache Antwort dazu: Natürlich jeder, der sich in der Natur entsprechend verhält und auch auf den Hütten, ist dort willkommen! Da wird nicht unterschieden zwischen echtem Bergsteigertum wie in den Tölzer Richtlinien und Jochbummlern oder Stadtwanderern. Alle, die sich an der Natur freuen, sind herzlich willkommen. Da gibt es keinen Ausschluss von irgendwelchen Personen, wie sie damals in den Tölzer Richtlinien genannt sind - das ist wirklich deutlich überholt und veraltet.
CK:
Na das ist doch schon mal beruhigend! Damit ist meine wichtigste Frage schon geklärt, aber trotzdem, ich hab noch ein paar Dinge, die ich gerne mit dir besprechen würde – nämlich zum Beispiel dein Verständnis vom bergsteigerischen Bedürfnis, das in den Richtlinien so oft erwähnt wird. Diese Frage hab ich allen gestellt, was sie darunter verstehen, und da würde ich gerne auch deine Meinung hören.
RS:
Das bergsteigerische Bedürfnis, so wie es in den Tölzer Richtlinien formuliert war vor 100 Jahren, ist eng mit dem echten Bergsteigertum verbunden, wie man es dort formuliert hat. So würde man das heute natürlich auf keinen Fall mehr definieren oder aussprechen, weil was ist ein bergsteigerisches Bedürfnis heute? Es sind alles Dinge, die uns ins Gebirge führen. Also zum einen die Freude in der Natur, die Freude in der Wildnis, ein sportliches Abenteuer suchen oder einfach die Natur auf sich wirken lassen. Alles das sind heute Bedürfnisse, warum wir in die Berge gehen. Und in die Berge gehen heißt ja auch, in irgendeiner Form Bergzusteigen oder Bergsport zu treiben. In dieser Form würde man das heute sicherlich ausführen.
CK:
Oh wow, voll die schöne Interpretation. Ich hatte tatsächlich was viel profaneres im Kopf, weil es ja ganz viel immer darum geht, was Hütten bieten dürfen. Also was braucht man, was ist unnötiger Luxus?
RS:
Also wir reden ja von unseren Hütten als Schutzhütten und auch wenn sich das jetzt etwas einfach anhört, aber das Wichtigste ist natürlich bei einer Schutzhütte, dass man ein Dach über dem Kopf hat, dass man vor Wind und Wetter geschützt ist. Das zeichnet die Schutzhütte als erstes Mal aus und das sollte man auch nicht unterschätzen, wenn man in einem Wettersturz kommt oder auch Schlechtwetter war, ist man heilfroh, wenn man in gesicherte vier Wände kommt. Wenn die Hütte dann auch, vor allem natürlich im Winter, einigermaßen angeheizt wird, ist das sehr angenehm, wenn es auf der Hütte was zu trinken und zu essen gibt, ist das natürlich auch ein Vorteil gegenüber Selbstversorgerhütten oder Biwakschachteln. Man kommt auf der Hütte mit einfachen Dingen aus, weil man in aller Regel nicht zum Essen oder Trinken auf die Hütte geht, sondern um zuvor das Abenteuer zu genießen oder den Naturgenuss. Und da ist der Aufenthalt auf einer Hütte auch mit einfachen Mitteln einfach noch einmal ein zusätzlicher Schlag obendrauf.
CK:
Ok, klar, wenn ich einfach nur Essen gehen will, bleib ich im Tal. Aber wenn ich in den Bergen unterwegs bin und es trotzdem Essen gibt, ist das ja auch nicht so schlecht, oder? Worauf ich rauswill, was ja oft als zu luxuriös kritisiert wird, ist das Speisenangebot. Und darüber hab ich mit dem Gernot, dem Wirt von der Höllentalangerhütte länger gesprochen und er meint, er ist einfach gerne Gastgeber und mit dem was die Ressourcen der Hütte hergeben will er seine Gäste zufrieden machen. Und wenn ihm der DAV vorschreiben würde, dass er nur noch drei Gerichte oder was anbieten darf, wär er nicht mehr Hüttenwirt. Und ich denke so geht’s vielen Wirtsleuten, die können ja auch nur am Essen und Trinken verdienen. Meinst du, dass wir dann halt einfach bewirtschaftete zu Selbstversorgerhütten machen sollten?
RS:
Ich glaube, es ist nicht unbedingt ein Kriterium der Quantität auf der Speisekarte, sondern eher der Qualität der Speisen. Ich war neulich auf einer Hütte im Tannheimer Tal, da gab es drei oder vier Grundgerichte, die aber immer variiert wurden, und ich glaube, das sollte man auch ins Auge fassen, weil das ja auch die Logistik deutlich vereinfacht, das vereinfacht auch das Personal auf der Hütte, das ist auch immer ein Engpass. Und wie gesagt, wer für mich auf einer Hütte eine Speisekarte wie im Restaurant in München erwartet, der sollte sich schon Gedanken machen, wo er sich denn aufhält.
Und die Schönheit zu genießen in der Natur, mit einem Glas Rotwein oder mit einem schönen Weißbier, das setzt nicht voraus, dass ich über eine fünfseitige Speisekarte auswählen kann. Ich glaube auch nicht, dass es die Leute tatsächlich erwarten. Die nehmen es natürlich hin, wenn es das gibt. Aber ich gehe auf keine Hütte, dass ich vorher schon weiß, ess ich heute eine Rindsroulade, ein halbes Hähnchen oder einen Schweinebraten. Ich glaube, das ist nicht der Ansatz, warum ich in die Berge gehe.
CK:
Logistik und Personal sprichst du schon an: andere kritische Ressourcen sind ja auf vielen Hütten Energie und Wasser. Da sind einige Hütten ja schon krass vom Klimawandel betroffen und haben wirklich Probleme. Denkst du diese Ressourcenknappheit als Klimawandelfolge sorgt dafür, dass zumindest einzelne Punkte aus den Tölzer Richtlinien wieder aktuell werden?
RS:
Auf manche Gedanken sind wir - oder sind die damals - in den Tölzer Richtlinien gar nicht gekommen. Da ging man davon aus, dass man höchst genügsam oder sogar asketisch die Hütten betreibt und sich in der Hütte aufhält. Heute hat sich das insofern gewandelt, dass wir natürlich auch über die Ressourcen ganz anders nachdenken, die wir auf einer Hütte zur Verfügung haben. Da gehört als Erstes das Wasser dazu, auf vielen Hütten wird das Wasser knapp, ist bereits schon knapp geworden. Hütten mussten auch vorzeitig in der Saison schließen. Auch da muss man bei der Bewirtschaftung einer Hütte natürlich Acht geben, wofür man dieses kostbare Gut Wasser verwendet. Das Zweite, was auf der Hütte auch nicht beliebig zur Verfügung steht, ist die Energie. Wenn man sie durch Fotovoltaik gewinnen kann oder im Einzelfall vielleicht auch durch ein Windrädchen, dann mag das noch gut sein. Manche Hütten verfügen über ein Wasserkraftwerk, aber auch dort ist die Energie nur begrenzt möglich. Dort, wo natürlich ein Netzanschluss ins Tal besteht, hat man genügend elektrische Energie zur Verfügung, aber das muss man alles im Einzelfall dann bewerten und gewichten, in jedem Fall gilt immer, sparsam mit solchen Ressourcen umzugehen.
CK:
Also ist das, was Hütten bieten sollen, abhängig von den Ressourcen, die zur Verfügung stehen?
RS:
Das ist ja klar, wenn es die Ressourcen nicht gibt, dann ist naturbedingt natürlich schon mit großer Genügsamkeit auf der Hütte auszukommen. Aber auch wenn ich viele Ressourcen zur Verfügung habe auf einer größeren Alpenvereinshütte, die erstmal keine Energieprobleme hat oder auch keine Wasserprobleme, keine Wassersorgen, dann heißt das noch lange nicht, dass man dort eine Speisekarte anbieten soll oder kann oder braucht, wie sie in den Gasthöfen im Tal möglich ist, sondern das Gebirge lebt durchaus von einer gewissen Genügsamkeit, Suffizienz möglicherweise. Es muss nicht bis zur Askese gehen, aber der Hauptpunkt im Gebirge ist nicht die Vielfalt des Angebotes, sondern eher die Qualität auch des Wenigen, das zur Verfügung steht.
CK:
Ja, willkommen im einfachen Leben! Für mich ist das auch gerade das Charmante an Hütten, dass es halt anders ist als daheim oder im Hotel oder was.
Das wäre für mich schon fast ein schöner Abschluss – möchtest du noch etwas loswerden? Was ist dein Fazit zu den Tölzer Richtlinien?
RS:
Die Tölzer Richtlinien sind ja nicht aus dem Nichts entstanden. Es sind ja vier Jahre zuvor bereits die Nürnberger Leitlinien verabschiedet worden, es ist die Bergwacht von 45 Münchner Sektionen gegründet worden 1920 - das muss man alles im Kontext sehen, dass die Richtlinien vor 100 Jahren insofern eine Zäsur waren, dass man zum ersten Mal öffentlich und in strukturierter Weise sich über das Ende der Erschließung der Alpen, der Ostalpen, Gedanken gemacht hat und das aufgeschrieben hat. Und insofern kommt den Tölzer Richtlinien durchaus eine gewisse Bedeutung in unserer Historie sowieso zu, aber ich glaube auch im allgemeinen Erschließungsverhalten der Alpen. Auch der Hinweis, dass die Hütten möglichst einfach sein sollten, hat, glaube ich, eine große Zukunft. Sei es, weil die Ressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen, aber auf der anderen Seite von der Bedeutung her, wie sich der Bergsportler, der Mensch, in der Natur aufhält und was er dort erwartet.
Insofern glaube ich schon, dass die Tölzer Richtlinien heute so nicht mehr in dieser Form formuliert werden würden, schon sprachlich nicht, auch mit vielen inhaltlichen Themen würden wir heute anders umgehen. Aber es war nach 50 Jahren Erschließung durch die Alpenvereine ein Schuss, die damals eher unkontrollierte Erschließung zu beenden.
CK:
Ich persönlich habe ehrlich gesagt ziemliche Probleme damit, den Tölzer Richtlinien etwas Positives abzugewinnen. Die Zeit aus der die Richtlinien kommen und auch die Begründungen, mit denen sie verabschiedet wurden, finde ich wirklich gruselig. Und auch einige inhaltliche Punkte. Aber ja, es sind auch Punkte dabei, die sich zu recht gehalten haben und ich finde ja auch, dass Hütten ressourcenschonend betrieben werden sollen und ich finde es toll, dass sie so gestaltet sind, dass es halt ein anderes Erlebnis ist, als in einem Talhotel zu übernachten. Aber sind die Mittel egal, solange das Ergebnis stimmt? Mein Fazit ist deshalb: Ich feiere nicht die Tölzer Richtlinien und ihr Jubiläum, ich feiere die Vielfalt der Hütten im Alpenverein und dass der Naturschutz im DAV eine Kernaufgabe geworden ist. und ich feiere, dass die Sektionen und Wirtsleute sich dafür einsetzen, den Betrieb nachhaltig und klimafreundlich zu gestalten und uns dabei immer wieder ein schützendes Dach über dem Kopf und das ganz individuelle Hüttenfeeling bieten. Und ich feiere, dass der DAV heute ein offener, vielfältiger und toleranter Verein ist – mit Selbstversorgerhütten für die einen und bewirtschafteten Hütten für die anderen Vorlieben.
AK:
Und bei 325 öffentlich zugänglichen Hütten im DAV finden wohl alle eine, die ihnen besonders gut gefällt und genau das bietet, was sie sich wünschen. Auf alpenverein.de findet ihr über die Hüttensuche sicherlich die passende Hütte für eure Bergtouren.
Schön, dass ihr auch diesmal mit dabei wart. Wenn euch der Bergpodcast gefällt, abonniert ihn am besten, damit ihr auch in Zukunft keine Folge mehr verpasst. Und damit, bis zum nächsten Mal – Tschüss und auf Wiederhören!