Von: K.B.
Beladen wie Packesel, sind wir zu acht Mann gestern Abend zum Spitzing hinauf marschiert, den eingeschneiten See entlang, haben zwei Stunden vor Mitternacht die Steigfelle unter unsere Ski geschnallt, und dann ging es bergauf in die Nacht hinein. Die anderen, die erst heute in der Früh losgezogen sind, treffen uns am späten Vormittag in der Nähe der Kümpfelscharte. Nachdem sie ihre leidgeprüften Schultern von einem Riesenrucksack befreit haben, blicken sie wieder froh in die weiße Welt. Sie verschnaufen kurz, dann wenden sie sich ihrem Gepäck zu, um darin nach Essbarem zu forschen. Den Schlafsack, der unterm Rucksackdeckel verstaut war, klemmen die meisten derweil zwischen ihre Knie - nur einer legt dieses Teil auf dem Schnee ab, während er im Rucksackinnern kramt. Diese Augenblicke nutzt der zu einer dicken, kurzen Rolle verschnürte Schlafsack. Er dehnt sich ein wenig, bewegt sich zur Seite, dreht sich um die eigene Achse, ein zweites Mal etwas rascher, und als sein Besitzer das gesuchte Wurstbrot zwischen die Zähne schiebt, kugelt der vorwitzige Schlafsack bereits hangabwärts auf dem gefrorenen Firn. Wunderbar leicht geht das, schnell und immer schneller. Schon hat er einen Vorsprung gewonnen, den selbst Verfolger auf Ski nicht mehr einholen werden. Er rast die Hänge der Kümpflalm hinab und mit übermütigen Sprüngen Richtung Pfanngraben, wo er schließlich weit unten als kleiner dunkler Fleck verschwindet.
Die Geschichten von draußen
Immer wieder schicken uns DAV-Mitglieder und andere Bergbegeisterte E-Mails mit tollen Geschichten und Erlebnissen von draußen in die Redaktion. Es sind Geschichten aus den Bergen oder anderswo in der Natur. Mit der Online-Rubrik "Geschichten von draußen" schaffen wir eine Möglichkeit, all diese Geschichten und Erlebnisse zu teilen. Und alle, die lieber lesen als schreiben, finden hier Unterhaltung, Inspiration und vielleicht schon Planungsgrundlagen für die eigene nächste Tour. Die Geschichten ersetzen keine individuelle und sorgfältige Tourenplanung.
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Der Schlafsack wird ihn jetzt haben, seinen Spaß im Gebirg´. Bei diesem Tempo dauert er höchstens zehn kurze Minuten, seinen Besitzer aber graust´s wahrscheinlich schon vor zehn langen Nachtstunden, die alles andere als spaßig werden ohne vollständige Biwakausrüstung hier oben im Bergwinter. Auch uns erwartet kein Vergnügen. Zwei Kameraden und ich zum Beispiel, wir werden uns auf dem Auerspitzkamm in den Schnee hinein schaufeln und beobachten müssen, ob sich aus Richtung Großtiefental oder Soingraben Gestalten in weißen Gewändern nähern. Schon in den nächsten Stunden sei mit ihnen zu rechnen, heißt es. Wir ziehen los auf unseren Ski. Unterwegs trübt der Himmel ein, keine zweihundert Meter weit reicht die Sicht. Der Wind treibt Wolkenfetzen niedrig über die Jöcher. Auf dem verschneiten Rücken angekommen, machen wir uns an die Arbeit. Zu zweit stechen wir Schneeblöcke aus und werfen sie nach hinten, der dritte Mann horcht und hält Ausschau, soweit es Nebel und Wolken zulassen. Beim Graben nehmen wir uns kaum Zeit zum Verschnaufen. Ein Meter Tiefe genügt nicht als Schutz vor dem schneidend kalten Wind, deshalb schaufeln wir weiter, bis bei aufrechtem Stehen nur noch Augen und Mütze über den Schneerand herausschauen. Nun breitet sich Zufriedenheit aus, allerdings nur so lange, bis wir merken, dass Sitzgelegenheiten fehlen. Jedes Möbelstück, selbst in bescheidenster Ausführung, braucht Platz, und eben daran mangelt es in unserer Notunterkunft. Aber jetzt erweist sich der einzigartige Vorteil ihrer einfachen Bauweise: sie ermöglicht beliebige Vergrößerungen ohne statische Bedenken. Wieder werfen wir Schneeblöcke aus unserem Graben, stechen zuletzt eine Art Bank aus und klopfen ihre Sitzfläche fest. Die Farbe ist vorgegeben: schneeweiß. Die Auflage wird nachtschwarz, denn sie muss wasserdicht sein, eine Bedingung, die allein unsere schwarzen Steigfelle erfüllen. Das Probesitzen verläuft zufriedenstellend. Die Rückenlehne jedoch fühlt sich arg kühl an, so dass wir uns besser nicht anlehnen – kerzengerade Haltung beim Sitzen soll sowieso gesünder sein.
Ablösung für knurrende Mägen?
Im Stehen, über den Schneerand Richtung Tal in den Nebel äugend und auf verdächtige Geräusche horchend, spüren wir den eisigen Wind im Gesicht und an den Ohren, während beim reglosen Dahocken auf dem neuen Sitzmöbel die Kälte eher schleichend von unten in die Knochen dringt. Die Sicht wird noch schlechter, der Wind heult uns die Ohren voll. Abwechselnd spähen wir auf die Hänge, über denen der Nebel nur selten für einen Augenblick aufreißt. Wir wissen, aus welcher Richtung die Gestalten zu erwarten sind, aber rein gar nichts will sich bewegen. Der Nachmittag geht in die Dämmerung über, leichter Schneefall setzt ein. Mit jeder Viertelstunde heftiger meldet mein Magen gähnende Leere, aber ich habe keinen einzigen Happen für ihn. Unsere Nahrungsvorräte liegen in den großen Rucksäcken, und die warten an der Kümpfelscharte – wir erhielten sogar Anweisung, ohne Verpflegung zu gehen, weil die weißen Gestalten bereits im Anmarsch seien. Für den Fall jedoch, dass sie bis zum Abend nicht auftauchen, sei unsere Ablösung vorgesehen. Unsere knurrenden Mägen bestimmen unsere Vorstellungen, sie drehen sich jetzt ums Essen und gaukeln uns verlockende Bilder vor. Plötzlich taucht ein Zweibeiner auf, in weißem Überzug, allerdings aus der Richtung, von wo wir selbst gekommen sind - wahrscheinlich Vorbote der versprochenen Ablösung. Er bringt schlechte Nachrichten: Wir sollen hierbleiben, keine Ablösung heute. Das kann eine lange Nacht werden, und das bisschen Verpflegung, was der Bote auspackt, ist karg bemessen für drei Mann. Unsere Schlafsäcke bringt er nicht mit - da hat offenbar die Planung gänzlich versagt. Die Tube mit Margarine fühlt sich eiskalt und steinhart an. Ich muss sie erst in die Hosentasche stecken und dort zwischen Handfläche und Oberschenkel aufwärmen, damit ihr Inhalt sich herauspressen lässt. So fest ich auch drücke – nur einige Millimeter weit kriecht ein dünner Strang gelblichen Fetts aus der Tube. Die drei Scheiben Brot schlucke ich fast trocken hinunter.
Ausharren im notdürftigen Unterschlupf
Wir werden nicht die einzigen sein, die über Nacht draußen in einem Schneegraben ausharren - hier auf diesen Vorposten hat man uns jedoch ohne Verpflegung geschickt, ohne Kocher und ohne Schlafsack, stattdessen mit der Zusage, wir seien vor dem Abend wieder zurück. Jetzt sollen wir die Nachtstunden in dieser offenen Tiefkühltruhe zubringen, während unsere Schlafsäcke ohne uns übernachten. Dunkelheit nistet sich ein. Der Wind bläst unermüdlich hier oben, und die Kälte nimmt zu. Für den Bau einer schützenden Höhle ist die Gelegenheit verstrichen, allenfalls ein notdürftiges Dach wird noch herzurichten sein, das wenigstens etwas Schutz bietet. Unsere Ski verwenden wir als Balken, legen sie quer über das schmale Wohnzimmer, zwei Zeltplanen darauf, zum Abschluss eine Schicht Schnee. Die dritte Plane soll als Vorhang die Kälte der Winternacht draußen halten. Wirksamer wäre es gewesen, dieses überdachte Stück Graben mit einer Schneemauer abzutrennen und tief unten den Eingang anzulegen wie bei einem Iglu. Mit dieser Baumaßnahme aber hätten wir früher beginnen müssen, während wir uns noch darauf verlassen haben, dass drei Mann Ablösung kommen, die sich mit ihren Schlafsäcken gegen die Kälte wappnen.
Da uns genau diese Ausrüstung fehlt, versuchen wir unseren verlängerten Rücken mit Steigfellen als Sitzunterlage leidlich vor aufsteigender Kälte zu schützen, aber durch die unvermeidlichen Lücken zwischen den nebeneinander gelegten Fellstreifen dringt Feuchtigkeit von unten an den Hosenboden. Wir verlieren Körperwärme. Bitter nötig wären jetzt die neuartigen Schaumstoffmatten, die wir uns selbst gekauft haben, hier aber nicht mitnehmen durften – wer das entschieden hat, der schlummert warm unter seinem Federbett, wo er keinen Handlungsbedarf spüren wird, seine Meinung zu überdenken. Unsere Aussichten für die Nacht bleiben unerquicklich. Oben auf Beobachtungsposten springt uns der Wind an. Wenn er schon nicht weiß, wohin mit seiner Kraft, soll er sich nützlich machen und die Wolken vertreiben.
Wir müssen unsere kalten Füße regelmäßig bewegen, die Zehen vor allem, aber unser Graben bietet zu wenig Platz, um einige Schritte hin und her zu gehen. Wir dürfen gar nicht daran denken, dass die neuen, wärmeren Schuhe zu Dutzenden in den Regalen der Tauschkammer stehen. Und dass es ausgerechnet dem Küchengefreiten gelungen ist, sich ein Paar der Neuen zu beschaffen, mit denen er im Tal umherstolziert. Wenn ihm daran lag, dass er in seiner warmen Küche keine kalten Füße bekommt, hätte das alte Schuhmodell es ihm noch Jahre getan. Uns wären die neuen Bergschuhe schon beim Aufstieg letzte Nacht nützlich gewesen, denn das dünnere Leder unserer alten Schuhe und ihr niedriger Schaft bieten dem Knöchel wenig Halt im steilen Gelände. Letzte Nacht war das wieder besonders mühsam, weil zusätzlich ein Trumm Rucksack auf die Bretter drückte. An entspannten Schlummer ist nicht zu denken, längstens für eine Viertelstunde klappe ich die Augendeckel herunter. Fest einzuschlafen hier oben in der klirrenden Kälte einer Winternacht wäre nicht ratsam, deshalb stoßen wir uns alle paar Minuten gegenseitig an. Und wir beginnen tatsächlich zu hoffen, dass die weißen Gestalten bald hier erscheinen.
Lichter in der Nacht
Aber die Stunden ziehen sich ereignislos hin. Doch dann geschieht etwas: Durch den Nebel funkelt ein Stern, ganz schwach. Der Wind fegt tatsächlich die Nebelschwaden von den Bergflanken und putzt den Nachthimmel blank – bald taucht der zweite Stern auf. Ihm folgen ein dritter, vierter, immer zahlreicher stellen sie sich ein ... So schön das Sternenzelt über uns ist – der Frost wird dadurch noch ärger, denn bei klarem Himmel fallen die Nachttemperaturen tief in den Keller. Die beißende Kälte ist zurzeit gefährlicher als alle Gestalten in weißen Gewändern. Die Kälte wird uns im schlimmsten Falle bis zur Morgendämmerung zu schaffen machen, noch etliche lange Nachtstunden. Meine Überhandschuhe, von der älteren Schwester gestrickte Fäustlinge, leisten mir jetzt wertvolle Dienste, ohne sie würden die Finger richtig schmerzen. Bevor der Körper zu sehr auskühlt, werden wir uns mehr Bewegung verschaffen, durch Schneeschaufeln zum Beispiel, mitten in der Nacht, wenn es sein muss. Sinnvoll wäre ein Fluchtgraben nach hinten, durch den wir uns unbemerkt absetzen könnten.
Immerhin fühlen wir uns vor Überraschungen sicher, denn nun haben wir einige Meter freie Sicht. Unendlich zäh schleppen die Minuten sich hin. Es ist kurz nach 4 Uhr. Ich suche den Schneehang vor uns ab, zum hundertfünfzigsten Mal, horche in die Dunkelheit hinaus. Kein verdächtiges Geräusch, selbst der Wind hat nachgelassen. Plötzlich ein Licht, weit unten und einen Augenblick nur. Danach ist alles unauffällig wie vorher, aber die Richtung merke ich mir, hellwach jetzt. Nach einiger Zeit wieder dieses kurze Aufglimmen. Grünes Licht war es, wie nur Filter an olivfarbenen Taschenlampen es erzeugen. Jede Täuschung ist ausgeschlossen, die Entfernung jedoch kaum abzuschätzen. Fünfhundert Meter vielleicht, aber auch tausend können es sein. Wer im Schutz der Dunkelheit unterwegs ist und grünes Tarnlicht verwendet, der hat erfahrungsgemäß Ungutes im Sinn. Es ist Zeit, den beiden Kameraden meine Beobachtung mitzuteilen.
Ab jetzt spähen wir zu dritt über den Schneerand ins Tal. Nichts mehr zu sehen von dem grünen Licht - eine Viertelstunde, eine halbe Stunde ... Im Osten zeigt sich ein matter, blaugrauer Streifen am Himmel, Vorbote der Dämmerung. Zaghaft folgen erste rote Farbtöne. Leider können wir diesem Farbenspiel nicht unsere Aufmerksamkeit widmen, denn jetzt im ersten Licht des beginnenden Tages erkennen wir Gestalten in weißer Tarnkleidung. Zwei Dutzend etwa sind es. Sie scheinen nicht damit zu rechnen, dass wir sie hier oben erwarten. Vielleicht hoffen sie, am Ende dieser Nacht die Überraschung auf ihrer Seite zu haben. In langer Reihe und Spitzkehren steigen sie den Hang herauf, wo der Schnee jeden Latschenbusch vollkommen überdeckt hat. Wir lassen sie herankommen bis auf etwa fünfzig Meter, hören schon das Gleiten ihrer Steigfelle auf gefrorenem Firn. Nun müssen wir ihnen klarmachen, dass es hier und jetzt für sie keinen Meter weiter geht. Wir entsichern unsere Gewehre. Sobald die ersten Platzpatronen die Stille des Morgens zerknallen, werfen sich zwei Dutzend Gestalten gegen den Hang. Sie haben augenblicklich begriffen, liegen nun schräg unterhalb von uns und werden sich nicht vom Fleck rühren, sondern überlegen, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien. Am hellen Tage dürfte ihnen das kaum gelingen. Was sie nicht wissen ist, dass wir nur drei Hansel sind und uns nach dieser Begegnung zurückziehen sollen, absetzen vom Feind, wie das in der Fachsprache heißt. Außerdem wird die Sonne bald damit beginnen, die Schneedecke in Traumfirn umzuwandeln, und schon das spricht klar gegen längeres gegenseitiges Belauern.
Ohne Frühstück verlassen wir unsere ungeheizte Nachtherberge in tiefer Gangart, damit die weißen Gestalten nichts bemerken. Während sie sich unterhalb des Auerspitzkamms in den Schnee drücken, gewinnen wir jenseits des Kamms Vorsprung auf dem Weg zur Kümpfelscharte. Dort angekommen, melde ich die Geschehnisse unserem Feldwebel. Dann stoßen wir in die Tiefen unserer Rucksäcke vor und fördern alles ans Tageslicht, was essbar ist. Irgendwann werden wir ins Tal abfahren. Am schönsten wäre es, wenn die Hänge soeben aufgefirnt sind, wahrscheinlich jedoch werden wir durch tiefen Nachmittagssulz pflügen. Genuss wird sich völlig anders anfühlen. Schon das Trumm auf dem Rücken genügt, ihn uns zu verleiden. Zum Spaß sind wir ja auch nicht hier.