„Puh, etwas aufgeregt wegen morgen bin ich schon.“ Clara sortiert den Inhalt ihres Rucksacks, während wir gemeinsam den letzten Materialcheck vor dem Aufbruch machen. Es ist ein später Nachmittag im April, morgen wollen wir zu einer Skihochtour der besonderen Art starten: Gemeinsam mit unseren Freunden Marc und Matt soll es auf den 2995 Meter hohen Dachstein gehen, den höchsten Berg von gleich zwei österreichischen Bundesländern: Oberösterreich und der Steiermark. Je nach Bedingungen ist eine Besteigung durchaus anspruchsvoll, führen die Wege doch alle über spaltenreiche Gletscher, durch steile Wände oder luftige Klettersteige. Schon im Sommer wenig anfängerfreundlich, ist der Berg im Winter je nach Bedingungen eine größere Herausforderung. Eine, der wir vier uns gerne stellen wollen: Wir haben uns vorgenommen, den Gipfel ab den Haustüren in München und Innsbruck aus eigener Kraft und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Unsere Idee: Von der Unterkunft in Bad Ischl – zu der wir natürlich alle vorbildlich mit der Bahn anreisen wollen – fahren wir am ersten Tag mit Bahn, Boot und geliehenen E-Bikes zum Hallstätter See, wo wir von der Bahnhaltestelle am Ufer mit der Fähre nach Hallstatt übersetzen. Weiter geht es mit den Rädern bis zum Bike-Depot an den Gosauseen. Hier heißt es dann, Tourenski an und los zur Adamekhütte (2196 m), unserem Domizil für die Nacht. Ende Tag eins. Am nächsten Morgen wollen wir über den äußerst spaltenreichen Gosaugletscher und den Westgrat zum Dachstein aufsteigen, abfahren und (weil das eben auch dazugehört) mit dem Rad zurück nach Bad Ischl. So zumindest die Theorie. Ein gemütlicher Sonntagsspaziergang ist also nicht zu erwarten: Mehr als 2100 Höhenmeter und über dreizehn Kilometer sind es allein von den Gosauseen zum Gipfel.
Beim Gedanken an die Praxis muss zumindest ich etwas schlucken, denn vor dem potenziell vereisten Westgrat als gesalzenes Finale habe ich großen Respekt. Ob unser Plan zu ambitioniert ist? Während ich noch vor mich hin grübele und gedankenverloren das Equipment in den Rucksack packe, sind Marc und Matt hochmotiviert und beratschlagen über die vor ihnen ausgebreitete AV-Karte gebeugt bereits über die unterschiedlichen Abfahrtsvarianten. Eine steile Rinne hat es den beiden besonders angetan, ich beäuge von der Seite die weit auseinanderliegenden Höhenlinien am Gletscher und bin beruhigt. Genussvarianten sind hier auf jeden Fall möglich. Mit erst zwei Wintern Skitourenerfahrung bin ich der Abfahrts-Neuling in der Gruppe, Clara aus Vorarlberg, Marc vom Chiemsee und Kanadier Matt sind alle mit Brettern unter den Füßen aufgewachsen und treiben seit der Kindheit ganzjährig Bergsport. Nach kurzer Rücksprache mit den anderen komme ich zu dem Schluss: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt und umkehren kann ich jederzeit.
Nützlich für Skitouren: Fortgeschrittene Tetris-Erfahrung
Nach einer gefühlt ziemlich kurzen Nacht in Bad Ischl schwingen wir uns in der Früh auf die Leihräder und los geht‘s zum nahegelegenen Bahnhof. Während der Zugfahrt dösen wir alle noch etwas vor uns hin. Naja, fast alle. Marc ist schon hellwach und quasselt nonstop. „Na, aufgeregt?“, fragt er mich und rammt mir scherzhaft den Ellbogen in die Seite. „Nö, ois easy“, kontere ich lässig. Und füge hinzu: „Noch.“ Dann muss es schnell gehen, denn wir sind schon an der See-Haltestelle angekommen. Am Steg warten wir, bis die Fähre angetuckert kommt – und bekommen große Augen. Matt stellt schließlich die offensichtliche Frage: „Wie sollen denn auf die Nussschale unsere Bikes draufpassen?!“ Dank einem erst genervten, dann amüsierten Kapitän und fortgeschrittener Tetris-Erfahrung gelingt es uns, alle Räder in den kleinen Laderaum zu pferchen. Als wir endlich sitzen, können wir erst die Aussicht um uns herum genießen. Wow! Wer noch nicht am frühen Morgen nach Hallstatt geschippert ist, sollte das unbedingt auf die To-Do-Liste setzen, denn diese Überfahrt kann was: Hoch ragen die schneebedeckten Bergspitzen über dem Wasser auf und spiegeln sich in eindrucksvollen Silhouetten an der Oberfläche. Die Häuschen der UNESCO-Welterbestätte Hallstatt kleben wie Nester an der Felswand über dem See. „Wer hier wohnt, hat alles richtig gemacht“. Marc schnalzt anerkennend mit der Zunge, revidiert seine Meinung allerdings, als ich ihm ein Bild der Touristenmassen zeige, die sich wochenends und in den Ferien durch die engen Gassen drücken. Ok, vielleicht sind München und Innsbruck doch nicht so übel …
Wir halten uns nur kurz im Ort auf, denn unser Tag ist noch lang: Schwer bepackt radeln wir von Hallstatt aus über Forst-, Wirtschafts- und Radwege die 23 Kilometer zu den Gosauseen. So bequem die Anreise mit dem Auto auch ist, dieses langsamere (wenn auch anstrengendere) Heranarbeiten an das Ziel hat eindeutig etwas für sich. Wir kommen durch aufblühende Frühlingslandschaften, kleine Dörfer und radeln entlang von Bächen und dichten Blumenwiesen in Richtung Ziel. Nur einige Wegweiser zum Skigebiet verraten zu dieser Jahreszeit, dass es hier nicht immer so ruhig zugeht. Besonders gespannt bin ich auf die als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Gosauseen, deren Fotomotiv ich bislang nur auf Instagram bestaunt habe. Vor Ort folgt – wie sollte es auch anders sein – die Ernüchterung. Mit Niedrigwasser und etwas brackig liegt der erste See vor uns. „Klassisches Instagram versus reality“, stellt Clara trocken fest und wir müssen lachen.
Trotzdem machen wir einen kurzen Fotostopp. Nach Müsliriegel und Obst ziehen wir noch einmal die Befestigung der Ski nach und legen die letzten Höhenmeter zum Rad-Depot zurück. Am Hinteren Gosausee folgt die erste Planänderung: Eigentlich wollten wir schon hier auf die Tourenski wechseln. Eigentlich, denn von Schnee ist hier weit und breit nichts zu sehen. Erst am oberen Rand der Baumgrenze über 1800 Meter erspähen wir vereinzelte weiße Flecken. Hilft nichts, wir schnallen uns die gesamte Ausrüstung auf den Rücken, krempeln die Hosenbeine hoch – und marschieren los. In den zahlreichen Latschengassen und sonnenexponierten Kehren kommen wir schnell ins Schwitzen. Dass es ausgerechnet heute so warm sein muss … Endlich erreichen wir nach etwa anderthalb Stunden Fußmarsch die geschlossene Schneedecke. Während ich in meinem Rucksack nach den Fellen krame, wird mir erst heiß, dann eiskalt. Wo ist das Packerl nur?! Hektisch räume ich alles aus, nur um festzustellen, dass ich sie während meines gedankenverlorenen Räumens und Träumens offensichtlich vergessen habe.
Sh … ! Kleinlaut beichte ich den anderen das Malheur. Nach dem ersten Kopfschütteln und meinem Angebot, dass ich auch wieder absteigen könne, entscheiden wir uns für ein erstklassiges Impro-Theater: Harscheisen an beide Ski, zusätzlich schnallen wir ein verknotetes Stück Reepschnur um eine der Latten. Mei, wird schon halten, oder? Tut es, sogar erstaunlich gut! Natürlich hängen mich die anderen im aufgeweichten Sulz schnell ab, aber ich komme voran. Nach einigen Höhenmetern habe ich eine einigermaßen funktionale „Steigtechnik“ entwickelt und schleiche – mit zusammengebissenen Zähnen – langsam, aber stetig in Richtung Hütte. Aber was hilft es, mich weiter zu ärgern? Solche Dinge passieren. Zum Glück ist das Gelände überwiegend sanft, denn jede kleine Spitzkehre treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Auch bei einigen leicht abschüssigen Querungen ist volle Konzentration gefragt. Pure Erleichterung, als die Hütte endlich ins Blickfeld rückt.
Auf der Panorama-Terrasse angekommen, staune ich nicht schlecht: Statt einer kalten Nacht im Winterraum erwarten uns Betten und eine warme Mahlzeit. Denn Wirt und Bergführer Martin Scherr ist vor Ort und versorgt uns erst mit Kaltgetränken, später mit Pasta in der eingeheizten Hüttenküche. Das übertrifft nicht nur meine Erwartungen für den Aufenthalt. Außer uns vier verbringen nur zwei weitere Tourengeher die Nacht hier oben, sie wollen eine steile Eisrinne klettern – und vielleicht sogar abfahren. Für den Sonnenuntergang versammeln wir uns noch einmal vor der Hütte und bestaunen die Aussicht auf die Große Bischofsmütze (2458 m), den Torstein (2948 m) und die Dachstein-Ostwand. Der Gipfel selbst versteckt sich hinter einigen Felsriegeln. Nach dem Aufstiegsunglück habe ich gleich ein zweites Mal Glück: Als ich dem Wirt kleinlaut meine Ski-Konstruktion zeige und den morgigen Aufstieg infrage stelle, zaubert er kurzerhand ein Ersatzpaar hervor. Gipfeltag gerettet!
Ein perfekter Gipfeltag
Schon zeitig am nächsten Morgen fellen wir auf der Hüttenterrasse an und marschieren in Formation den Gletscher hinauf. Zu Beginn sind Harscheisen nötig, die während der ersten Stunde die einzige Geräuschkulisse bilden. Aber auf Marc ist Verlass: „Gib der Eisdecke hier noch ein paar Stunden und etwas Sonne, dann haben wir perfekte Bedingungen“, ist er sich sicher. Auch Clara, Matt und ich freuen uns auf den erhofften Abfahrtsfirn. Nach etwa anderthalb Stunden und knapp sechshundert Höhenmetern schnallen wir die Ski ab und tragen sie die letzten Höhenmeter hinauf in die steile Scharte am Fuße des Dachstein-Westgrats. Hier im Schatten auf knapp 2800 Metern sind Daunenjacke, Stirnband und Handschuhe noch äußerst willkommen. Um möglichst wenig Gewicht schleppen zu müssen, lassen wir auch die Rucksäcke am Skidepot zurück und steigen mit Kletterausrüstung gesichert in den Westgrat ein. Normalerweise führt im Sommer ein mäßig schwieriger Klettersteig (B) auf 210 Metern Länge zum höchsten Punkt. Heute bedeckt eine kompakte Eisdecke die meisten Meter Stahlseil, hier sind fortgeschrittene Kenntnisse für die Absicherung nötig. Zum Glück waren in den Vortagen bereits andere hier: Ins Eis gehauene Stufen und Mulden ersparen uns viel Mühe.
Als der Grat etwas abflacht und wir die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht spüren, entspannen sich alle merklich. Die letzten Meter auf der luftigen Schneide fordern noch einmal kurz volle Konzentration, dann ist es geschafft. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu grinsen – eine Dachstein-Winterbesteigung? Mega! Wir umarmen uns, genießen die Rundumsicht an diesem perfekt-wolkenlosen Tag und halten uns und den Moment fest. Alle drei stehen wir das erste Mal hier oben und sind uns einig: Dieser Tag ist etwas ganz Besonderes. Doch gemütlich ist es auf dem engen Plateau nicht, weshalb wir uns bald schon wieder an den Abstieg machen. Ich luge noch kurz hinunter in die Südwand. Wo wohl der Ausstieg von Steinerweg (V) und Pichlweg (IV), DEN zwei Kletterklassikern in der Dachstein-Südwand, ist? Nur eine halbe Stunde später stellen wir die Ski auf Abfahrtsmodus und ziehen die ersten Schwünge auf der breiten, sanft geneigten und perfekt geschlossenen Gletscherfläche. Und siehe da, Marc hatte Recht: perfekter Firn.
Unterhalb der Adamekhütte teilen wir uns in zwei Gruppen auf: Marc und Matt wollen über eine steile Rinne zurück zu den Seen, Clara und ich entscheiden uns für die Aufstiegsvariante, die bei geschickter Routenwahl nie die 30 Grad übersteigt. Diese Option hält zwar noch einmal einen Fußhatscher und Tragen parat, ist dafür aber die genussvollere und sicherere Variante. Als wir mit den Rädern zurück zu den Seen rollen und im ersten Gasthof am Weg ein Kaltgetränk in den Händen halten, sind wir uns trotz einiger Irrungen und Wirrungen einig: Wiederholungsbedarf!
Toureninfos Dachstein mit Bahn, Boot, Bike und Ski
Anreise: Mit der Bahn von München/Innsbruck/Salzburg bis Bad Ischl. Hier kann man Räder leihen. Wer sein eigenes Bike nehmen will, kann auch direkt bis zur Bahn-Haltestelle „Hallstatt“ fahren. Hier mit der Fähre übersetzen. Fahrpläne unter hallstattschifffahrt.at/de.
Distanz: Insgesamt über 100 Kilometer aus eigener Kraft (mit E-Bike Unterstützung) in der hier durchgeführten Variante.
Dauer: 2 Tage
Schwierigkeit: Schwere Skitour mit Klettersteigstellen (B), wenn das Drahtseil unter dem Schnee liegt/vereist ist, deutlich erhöhte Schwierigkeit. Sehr spaltenreicher Gletscher, nur für Erfahrene!
Anforderungen: Hohe Kondition (bis 2000 Hm) und alpine sowie Hochtouren-Erfahrung, absolut sicheres Klettern mit Steigeisen in kombiniertem Mixed-Gelände.
Material: Skitouren- und LVS-Ausrüstung, Helm, Steigeisen, Pickel, je nach Bedingungen Seil und Sicherungsmaterial (Klettersteigset und/oder Eisschrauben, Bandschlingen, Karabiner).
Stützpunkt: Adamekhütte, 2196 m, ÖAV-Sektion Austria, bewirtschaftet von Juli bis September, adamek.at/.
Diese Reportage entstand im Rahmen der Nachhaltigen Skitour 2024 von Löffler.