Ein kleiner Steig führt übers Ritzenjoch und dann hinunter zur Heidelberger Hütte. Diesen nutzen alle, die von Mathon oder Galtür aufsteigen – ein Grund, warum die Truppe um Marc Derungs, Wegewart der Sektion Heidelberg, ausgerüstet mit Schaufel, Spitzhacke und Rechen hier unterwegs ist. Morgens sind sie von der Hütte aufgebrochen und Richtung Ritzenjoch aufgestiegen. Livia, Luisa, Johanna, Oli, Tobi und Peter gehen weiter Richtung Zollhaus, um dort den Steig zu prüfen, Abwasserrinnen zu hacken, sumpfige Stellen mit Steinen auszubessern und unübersichtliche Wegstellen mit Steinmännchen zu markieren. Marc kümmert sich mit Hans und Markus um den Aufstiegsweg.
Der Steinmännchen-Bau ist eine besonders beliebte Arbeit, am Vortag waren es Richtung Kronenjoch auf der Nordseite der Hütte um die zwanzig Stück, schätzen die acht Ehrenamtlichen. Einige von ihnen helfen Jahr für Jahr bei der Pflege und Sanierung der Wege rund um die Hütte.
Entstehung der Wege – wie, wann, warum?
Fünf Tage sind sie diesen August unterwegs, um die Wegstellen, die Marc bereits bei seinem Besuch Wochen vorher in der Karte markiert hat, zu sanieren – heute begleite ich sie. Am Vortag, beim Aufstieg zur Heidelberger Hütte, hatte ich ausreichend Zeit, mir Gedanken über die Themen Berge, Wege und Bergwege zu machen. Gute drei Stunden bin ich unterwegs von der Mittelstation der Silvrettabahn bis zur Hütte – immer auf der gut ausgebauten Forststraße, anfangs geteert vorbei an den Liftstationen des Skigebiets Silvretta Arena, später recht idyllisch entlang der Weiden des Fimbatals – Kühe, Pferde, Esel. Und Murmeltiere so weit das Auge reicht. Wie, wann und warum sind die Wege und Steige in alpinen Regionen überhaupt entstanden? Warum führt der Weg genau auf dieser Route auf den Gipfel? Eine Idee, wer dafür sorgt, dass diese Wege auch begehbar bleiben, habe ich ja schon.
Und auch eine Antwort auf die erste Frage kommt mir während des Aufstiegs zur Hütte. Bereits seit Jahrhunderten wird das Vieh aus dem Engadin ins Fimbatal „gestoßen“, bestätigt Wegewart Marc später meine Theorie. Indiz sind neben den ausgiebig genutzten Almen die Überreste zweier alpwirtschaftlicher Bauten – entdeckt bei archäologischen Untersuchungen zeigen sie, dass insbesondere das Gebiet rund um die Heidelberger Hütte eine intensiv von Mensch und Tier geformte Kulturlandschaft ist. Und das merkt man auch an den Wegen. Manche wurden für den Transport von Waren, Schmuggel und Handel, Holzabbau oder militärische Zwecke genutzt, viele sind aber auch Ergebnis dieser Alpwirtschaft – gemein ist den meisten ihr hohes Alter. Und auch die Ehrenamtlichen merken es während ihrer Arbeiten: Nicht nur Mensch und Witterung, auch das Vieh trägt dazu bei, dass der Unterhalt der Wege aufwendig ist.
Lob, Dank und drei Gänge für die Ehrenamtlichen
Die Entstehungsgeschichte der Alpenvereinswege wie wir sie heute kennen, ist jedoch komplexer: das Ende des 18. Jahrhunderts gilt als Geburtsstunde des Alpinismus. Anfangs auf der Suche nach (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen, später um des Bergsteigens selbst willens, beginnen die Menschen, Gipfel zu erklimmen. Und alpine Regionen zu erschließen. Hütten werden gebaut, Wege nötig, um diese zu erreichen und miteinander zu verbinden. Diesen Zusammenhang zwischen den Hütten als alpine Stützpunkte und den Wegen verdeutlicht mir auch Marc am Beispiel der Heidelberger. Um als Stützpunkt erhalten werden zu können, muss die Hütte möglichst wirtschaftlich arbeiten. Im Winter ist sie ein viel frequentiertes Skitourenziel. Im Sommer sorgen schmelzende Gletscher dafür, dass die an der Heidelberger Hütte vorbeiführende Silvretta-Runde unbeliebter wird – die Wandergäste bleiben aus. Vermutlich auch ein Grund, warum das Wegeteam von Hüttenwirt Alois „Loisl“ Eiter nach den langen Arbeitstagen mit Dreigängemenü, besten regionalen Weinen und Loisls unverwechselbarem Charme verwöhnt wird. Denn ein gut gepflegtes Wegenetz macht das Gebiet attraktiv und Wanderfans glücklich.
Das merken wir auch bei den Arbeiten am Ritzenjoch. Viele sind an dem sonnigen Mittwoch nicht unterwegs, aber alle, die wir treffen, haben mindestens ein kurzes Wort des Lobes und Dankes übrig. Vielleicht liegt es daran, dass Marc selten Probleme hat, Freiwillige für seine Arbeitseinsätze zu finden. Meistens führt er sogar eine Warteliste. Vielleicht ist es aber auch die Stimmung: Dass es hier in der Gruppe nicht nur um harte Arbeit geht (und das ist Wegebau wirklich, stelle ich fest, als ich die Spitzhacke schwinge, um einen Abfluss für den entstehenden Teich auf dem Weg zu graben), merkt man gleich. Der Spaß darf nicht zu kurz kommen! Und so gibt es zur Mittagspause schon mal ein selbstgebrautes Gipfelbier vom Tobi oder einen Abstecher für einen Sprung in den Bergsee.
Ziel der Wegearbeit ist es zwar nicht, diese „besenrein“ zu hinterlassen, wie es im Wegehandbuch formuliert ist. Ein gewisses Maß an Verantwortung gilt es aber schon zu übernehmen. Die Instandhaltung der Wege erfolgt fast ausschließlich auf ehrenamtlicher Basis, daher gilt die Verkehrssicherungspflicht so strikt auch eher auf dem Papier. Hinzu kommt: Im alpinen Raum ist man auf eigenes Risiko unterwegs. Auch mit wachsendem Komfort am Berg (die kleine Fass-Sauna hinter der Heidelberger Hütte dient als naheliegendes Beispiel) darf und muss also ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit der Bergsteigenden vorausgesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist der DAV sich auch seiner Rolle als Naturschutzverband bewusst – die Wege sollen möglichst naturverträglich unterhalten und ausgebaut, natürliche und gleichzeitig dauerhafte Materialien verwendet werden. Und so ist Teil des Arbeitseinsatzes immer auch die Suche nach passenden Werkstoffen im Gelände – flache Steine als Stufen, hohe Felsbrocken, um Abschneider zu sperren, Schotter, um Löcher aufzufüllen.
Aber woran liegt es eigentlich, dass der Unterhalt der Wege in den Bergen so arbeitsintensiv ist? Klar ist: Dinge, die viel genutzt werden, nutzen sich ab. Bei den Wegen rund um die Heidelberger Hütte sind das im Sommer vor allem auch Mountainbike-Reifen. Marc stellt aber gleich klar: „Dem Weg ist es relativ egal, ob er befahren oder begangen wird. Es ist besonders die Intensität der Nutzung, die viele Sanierungsarbeiten nötig macht. Und die Abschneider, die wir jedes Jahr zu machen, stammen eher von Wanderschuhen.“ Und die Kühe – die verglichen mit früheren Zeiten immer schwerer werden – tragen auch einen ordentlichen Teil dazu bei, dass die Arbeit für die Ehrenamtlichen nicht ausgeht.
Stichwort: Klimawandel!
Auch indirekt hat der Mensch Einfluss auf die Zerstörung der Wege in den Bergen. Stichwort: Klimawandel! Seit den 1880er Jahren ist die Temperatur in den Alpen um rund 2 °C angestiegen. Die Folge sind schmelzende Gletscher und tauender Permafrost. Dies führt dazu, dass Naturgefahren wie Muren, Felsstürze oder auch kleinere Steinschläge zunehmen, oder Gebirgsbäche interimsmäßig mehr Wasser führen, was längere Stege für ein Weiterkommen erfordert. Schmelzende Gletscher, klar. Aber was hat es mit dem Permafrost auf sich? Als Permafrost wird Gestein und Lockermaterial unter der Erdoberfläche bezeichnet, das sich das ganze Jahr nicht über 0 °C erwärmt und so durch Eis zusammengehalten wird – die Problematik ist von außen kaum sichtbar, wenn er taut, kann er jedoch oben genannte Naturgefahren auslösen. Und schon heute müssen Hütten wie das Hochwildehaus der Sektion Karlsruhe wegen Schäden am Fundament geschlossen werden – ein möglicher Grund dafür: das Tauen des Permafrosts.
Zurück zu den Gletschern – seit 1850 haben sie bis zu 75 Prozent ihrer Fläche verloren. Das Gelände, das unter den Gletschern zum Vorschein kommt, ist in zweierlei Hinsicht problematisch: erstens sind diese eisfreien Gebiete rund um die Gletscher häufig von Erosion betroffen, das heißt, die umliegenden Wege können durch die Abtragung von Gestein und Lockersedimenten beschädigt oder zerstört werden. Zweitens gibt die Gletscherschmelze schwierig zu begehendes Gelände frei, das eine neue Weginfrastruktur erforderlich macht – neue Herausforderungen für die Wegewart*innen der Sektionen. In solchen Fällen wird auch vom Grundsatz der Alpenvereine abgewichen, keine neuen Wege anzulegen. Beispiele zeigen, dass dies auch immer wieder nötig ist: Der Gurgler Ferner war vor 20, 30 Jahren problemlos ohne Ausrüstung zu überqueren, heute geht das nur noch dank einer aufwendig durch Sektionen und Tourismusverband erbaute Hängebrücke. Oder der 2010 neu angelegte Kürsingersteig, der den Übergang von Kürsinger zu Warnsdorfer Hütte möglich macht, indem er das inzwischen gefährliche Toteis- und Schuttgelände großräumig umgeht. Häufiger noch ist die Verlängerung von Wegen an Randklüften von Gletschern, wie am Höllentalferner. Die steile Wand apert aus, jedes Jahr müssen mehr Tritte eingebaut werden. Die größten und häufigsten Schäden an Wegen entstehen jedoch durch Wasser. Und auch die werden mehr – Stichwort Gletscherschmelze und Starkregenereignisse, beides Folgen der Klimaerwärmung. Wenn diese Wassermassen nicht zügig von den Wegen abgeleitet werden, suchen sie sich ihren Weg und graben tiefe Furchen. Ohne Gegenmaßnahmen der Wegewart*innen verstärkt sich dieser Prozess dann selbst.
Die Zukunft im Blick
Diese Beeinträchtigungen durch den Klimawandel sind kein neues Phänomen, bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren die Probleme für den Wegebau durch schmelzende Gletscher bekannt. Die Intensität aber hat sich enorm beschleunigt – Daten zeigen, dass die Gletscher seit den 1990ern aufgrund stärkerer Erwärmung noch schneller schmelzen. Die Klimamodelle prognostizieren bis Mitte des Jahrhunderts einen weiteren Verlust des Eisvolumens von 50 Prozent im Vergleich zu heute. Wie die Alpenvereine sich auf eine Zukunft mit dem fortschreitenden Klimawandel und daraus resultierenden Herausforderungen für das Wegenetz vorbereiten? Dafür gibt es laut Gabriela Scheierl, zuständig für Wegebau beim DAV-Bundesverband, noch keine einheitliche Richtung: „Es ist jedes Mal ein Einzelfall. Aber wenn die Situation sich verschärft, könnte ein Konzept erforderlich werden. Denn manche Wege wird man sicher nur unter sehr hohen Kosten als Wanderwege oder Steige erhalten können. Die Alternative wäre dann, den Weg aufzulassen, und als Alpine Route zu führen. Das bedeutet, dass der ehemalige Weg wieder freies alpines Gelände wird, was die bergsportlichen Ansprüche unter Umständen deutlich erhöht.“
Zurück ins Arbeitsgebiet der Sektion Heidelberg. Dass man auch beim Wegebau mit alpinen Gefahren konfrontiert wird, zeigt mir ein Video von Markus. Nicht weit von der Stelle, an der die Truppe gerade unterwegs ist, donnert ein gewaltiger Felsbrocken ein Schotterkar herunter. Auch wer ehrenamtlich in den Bergen unterwegs ist, sollte also alpine Erfahrung mitbringen und die Umgebung einschätzen können. Während Livia, Luisa, Johanna, Oli, Tobi, Peter, Hans, Markus und Marc sich immer weiter Richtung Feierabend vorarbeiten, breche ich langsam auf Richtung Heimat. Auf dem Rückweg zur Hütte bewundere ich nochmal die Arbeiten der letzten Stunden und freue mich, als ich intuitiv den Abschneider links liegen lasse und den „richtigen“ Weg nehme. Als selbstverständlich hinnehmen kann ich die Wege und Steige hingegen nicht mehr mit dem Wissen, wieviel Arbeit dahintersteckt und welchen Herausforderungen sich die Ehrenamtlichen dabei stellen.