Wilder Ginster am Anfang des West Highland Way
Wilder Ginster am Anfang des West Highland Way. Foto: Colin Fischer
Geschichten von draußen

To the North, to the North!

Bei einer längst vergangenen Schottland-Reise war Colin Fischer schon mal einige Meilen auf dem West Highland Way unterwegs. Jahre später der Wunsch, diese legendäre Route unbedingt komplett zu laufen. Sein Fazit: Ein absoluter Trekking-Traum.

Von: Colin Fischer

Am 9. Mai 2023 um 22:30 Uhr setzt unsere A320 zum Landeanflug an und taucht hinab nach Glasgow, wo die Sonne gerade ihre letzten leuchtend roten Strahlen in den Abendhimmel schickt. Mein grasgrüner Rucksack erscheint alsbald auf dem Gepäckband. Gepackt, geschultert, weiter zum Airport Express 500, der mich downtown bringt. – Ecke Hope Street hüpfe ich aus dem Bus, von dort nur noch ein paar hundert Meter zum Hostel direkt am Clyde River. Nach einer kurzen Nacht geht es am nächsten Tag zu Fuß los in Richtung West Highland Way ab Milngavie – auf dem Weg dahin kurzer Stopp beim Outdoorshop, um eine Kartusche für meinen Kocher zu erstehen. Es ist elf Uhr, als ich beim Startpunkt des West Highland Way (WHW) stehe. Vor mir liegen 96 Meilen (154 km) mit jeweils 3500 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, die ich in acht Tagen erwandern möchte.

Der Autor am Startpunkt des West Highland Way in Milngavie – von hier aus sind es 96 Meilen bis Fort William. Foto: Colin Fischer

Auf geht’s! – Nach einer Unterführung (oder ist es eine Schleuse in eine andere Welt, welche die industrielle Vorstadthölle hinter sich lässt?) landet man direkt im Mugdock Country Park und wandert die ersten 20 Kilometer recht entspannt in der Ebene bis Drymen. Immer wieder gibt es Schottland-typisch kurze Regenschauer, ständig heißt es: Jacke an, Jacke aus. Am späten Nachmittag gesellt sich Melville dazu – ein junger Kerl aus Heidelberg, der gerade seinen Bachelor in American Studies abgeschlossen hat. Es ist bereits nach sechs Uhr, als wir kurz hinter Drymen einen Blick auf die Karte riskieren und beschließen, bald das Nachtlager aufzuschlagen. Noch mal ins Dorf zurück wollen wir nicht, ist schon nach sechs Uhr. Stattdessen gehen wir zum Ortsausgang zurück – zurück zur „honesty box“ mit Trinkwasser. Für fünf Pfund füllen wir unsere Vorräte auf und kehren in Richtung Abzweig um. Nur wenige Meter weg vom Trampelpfad finden wir unter Bäumen unser erstes Nachtlager.

Drymen – Cashel Farm

Am nächsten Morgen sind wir um 10:00 Uhr abmarschbereit – mit dem Conic Hill steht die erste Erhebung an, die etwas Kraft kostet und dann den Blick freigibt auf den Loch Lomond, dessen Ostküste der WHW von nun an über 30 Kilometer folgt. Vor dem Abzweig zum Conic Hill netter Austausch mit einem Wanderer aus Edinburgh, der sich ausdrücklich dafür bedankt, dass wir nach Schottland gekommen sind: Thanks for coming to our country! Man stelle sich vor, das würde ein Urlauber in Deutschland zu hören bekommen. Warum nicht, just do it!

Lohnender Aufstieg und fantastischer Ausblick: kurzer Abzweig vom West Highland Way auf den Conic Hill. Foto: Colin Fischer

Cashel Farm – Inversnaid

Weiter geht es am Loch Lomond entlang, viele Punkte öffnen schöne Ausblicke auf den größten Süßwassersee Schottlands. Ich habe mir die erste Blase eingehandelt und lockere die Schnürung, so dass das Blut besser zirkulieren kann. Ein erfrischendes Fußbad im See gibt neue Energie, weiter geht es bis hinter das Hotel Inversnaid, wo die „Managed Campzone“ zu Ende ist und der Wanderer sein Zelt jederzeit am schönsten Fleckchen aufstellen darf. Etwa 500 m hinter dem Hotel ist der Spot gefunden, wir schlagen unsere Zelte auf, werfen den Kocher an und gehen anschließend auf ein Pint in den Pub. Gut, dass ich vom Wanderstiefel auf Trekkingsandale gewechselt bin, denn im Pub sieht man die schweren dreckigen Boots der Hiker nicht so gern. No problem – und das erste Bier in Schottland, ein Best Highland Ale, schmeckt wunderbar. In der Nacht bricht eine meiner beiden Zeltstangen, zum Glück nur die hintere – ich improvisiere, nehme einen Stab heraus und hoffe, dass das Zelt den WHW übersteht. Die Zeltplane hängt nach hinten etwas durch, aber mit den Abspannleinen wird das für den Rest des Trips schon halten …

Abendstimmung am Loch Lomond. Foto: Colin Fischer

Inversnaid – Crianlarich

Mittlerweile bin ich den vierten Tag auf dem WHW unterwegs, auf der heutigen Etappe bis zum Abzweig bei Crianlarich stehen 20 Kilometer an – ich überschlage, wie ich in der Zeit liege. Heute ist die Hälfte des Weges erreicht. Wenn ich so weitermache, schaffe ich es gerade nach Fort William, muss dann jedoch umgehend zurück nach Glasgow, um meinen Lufthansa-Flug zurück nach Frankfurt zu erwischen. Die Erkenntnis dämmerte mir schon länger, jetzt ist es glasklar: Ich muss den Ben Nevis von der Liste für diesen Trip streichen. Ich tröste mich damit, dass ich vor 30 Jahren schon einmal dort oben stand, wenn auch dank Highland-Nebel am Gipfel so gut wie nichts zu sehen war. Mit der erreichten Hälfte des WHW hat Melville sein Ziel erreicht und zieht weiter nach Oban – wir schlagen ein letztes gemeinsames Nachtlager mit schönem Ausblick auf die umliegenden Gipfel auf.

Die Geschichten von draußen

Immer wieder schicken uns DAV-Mitglieder und andere Bergbegeisterte E-Mails mit tollen Geschichten und Erlebnissen von draußen in die Redaktion. Es sind Geschichten aus den Bergen oder anderswo in der Natur. Mit der Online-Rubrik "Geschichten von draußen" schaffen wir eine Möglichkeit, all diese Geschichten und Erlebnisse zu teilen. Und alle, die lieber lesen als schreiben, finden hier Unterhaltung, Inspiration und vielleicht schon Planungsgrundlagen für die eigene nächste Tour. Die Geschichten ersetzen keine individuelle und sorgfältige Tourenplanung.

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Gegen Ende jedes Jahres wird über die besten Geschichten abgestimmt – die Autor*innen der Gewinner-Storys dürfen sich über einen tollen Gutschein freuen.

Crianlarich – Bridge of Orchy

In der Nacht hat es ziemlich geregnet, ein paar Tropfen haben es durch die Zeltplane geschafft. Dafür dass mein Zelt nur noch auf Sparflamme läuft, hat es sich ganz gut geschlagen, Schlafsack, Isomatte und Rucksack sind trocken geblieben. Ich passe eine Trockenphase ab, schlüpfe aus dem Schlafsack und packe meine sieben Sachen so schnell als möglich zusammen – dabei werde ich von einigen Midges belästigt (kleine lästige Mücken, die man anders als Moskitos nicht hört, die einen aber mindestens ebenso piesacken können), die heute morgen fliegen können, weil der Wind nicht schneller als 3 mph weht. Dabei soll es im Mai noch vergleichsweise wenige dieser Plagegeister geben – dunkel erinnere ich mich, dass es damals im August wirklich kaum auszuhalten war. Um halb neun ist alles verstaut, eine schnelle Umarmung und ich bin allein unterwegs. Heute lautet das Etappenziel Bridge of Orchy, 20 Kilometer sind zu bewältigen. Dort wartet ein Zeltplatz direkt am Flussufer auf mich – vom Hotel aus geht es nur über eine kleine Brücke hinüber. Ich suche mir einen geschützten Platz, damit mein Zelt nicht von einer Windböe zerlegt wird. Nachdem das Zelt steht, geht es zurück in den Pub, wo ich bei einem schönen Pint die Busfahrt von Fort William nach Glasgow buche – und auch gleich das zugehörige Hostel in der Nähe der Buchanan Bus Station, damit ich von dort in den Airport Express steigen kann.

Schafe gehören zu den Highlands wie der schnelle Wetterwechsel. Foto: Colin Fischer

Bridge of Orchy – Glencoe Mountain Resort

Tag sechs, heute sind es zur Abwechslung mal etwas weniger als 20 Kilometer. Mit dem Mam Careigh steht heute tatsächlich auch mal ein Gipfel an und es sind 10 Kilometer am Westrand des Rannoch Moor zu laufen. Von den ständigen Wechseln im Licht-und-Schatten-Spiel an den imposanten, sanft auslaufenden Highland Mountains kann man gar nicht genug bekommen – die festgehaltenen Bilder auf Smartphone und Kamera sind nur ein schwaches Abbild dieser grandiosen Landschaft, in der ich mich Meile für Meile voranarbeite. Ein drahtiger Schotte mit tätowierter Wade (wo wir Festlandsbewohner mit Jacke laufen, sind die Highlander bereits mit kurzer Hose und T-Shirt unterwegs) überholt mich mit kräftigen Schritten – wir grüßen, ich frage: Wohin des Wegs? Er hält die Nase in den Wind, grinst mich an und ruft mir über den Wind hinweg zu: To the North, to the North! Mittlerweile sehe ich eine gute Chance, den WHW zu schaffen, die Blase am linken kleinen Zeh belästigt mich nur noch wenig. Das Schild zum Glencoe Mountain Resort mit „warm showers“ und Restaurant ist äußerst verlockend, so dass ich spontan abbiege und mein heutiges Etappenziel Kingshouse Hotel sausen lasse. 

Glencoe Mountain Resort – Kinlochleven

Knapp eine Meile weiter ist am nächsten Tag das Kingshouse Hotel erreicht, wo ich eigentlich übernachten wollte. Drohend hängen dunkle Wolken über dem Taleingang des Glen Coe, fast scheint es, als ob die Highlands einem Höllenschlund gleich sämtliche Wanderer verschlucken wollten. Passenderweise steht wenig später der Devil´s Staircase an, der mit einem strammen Anstieg über 300 Höhenmeter auf eine Passhöhe von 550 Metern und damit den höchsten Punkt des WHW führt. Klingt nach nicht viel, aber der Aufstieg hat es in sich. Oben angekommen: ein paar Minuten verschnaufen, etwas Wasser, ein Riegel – nicht zu lange, denn der Wind hier oben lässt einen doch schnell auskühlen. Von hier aus geht es im Grunde nur noch absteigend hinunter nach Kinlochleven – das Blackwater Hostel, wo ich heute zelte, liegt direkt am Weg. Es ist halb zwei, ich habe die Etappe stramm hinter mich gebracht – einchecken kann ich jedoch erst ab drei Uhr. Ich bummle durch das kleine Städtchen, in dem es nach 44 Kilometer wieder einen Supermarkt mit größerer Auswahl gibt. Erstehe ein ganzes Brot, ein Beutelchen Cocktailtomaten und Coleslaw, einen bunten Weißkrautsalat, und setze mich damit auf den Marktplatz. Abends im Highland Inn trifft man auf vertraute Gesichter vom WHW.

Devil´s Staircase voraus, wo es steil nach oben geht – und Kondition gefragt ist. Foto: Colin Fischer

Kinlochleven – Fort William

Ich stehe früh auf, denn zum Finale stehen noch einmal über 20 Kilometer an. Und auch ein kleiner Pass. Kurz vor halb neun breche ich auf. Es läuft gut, mit dem Wissen um das nahe Ziel laufen die Beine fast wie von selbst. Immer wieder gewährt der Ben Nevis, der sich meist majestätisch in Nebel hüllt, beim Abstieg ins Glen Nevis einen Blick auf seinen markanten Aufbau. Dann bin ich im Tal, noch knapp 2 Kilometer an der Straße entlang und ich stehe vor dem offiziellen Endpunkt des WHW. So plötzlich und unerwartet! Unglaublich, am Ende habe ich es tatsächlich geschafft – acht Tage bin ich stets auf diesen Punkt zugelaufen. Und jetzt ist er da. Und jetzt? Ein letztes Mal schlage ich das Zelt auf, genehmige mir im Pub neben einem Pint ein opulentes Fish & Chips Barmeal (Haddock bzw. Schellfisch) und merke, wie sich neben einer großen Müdigkeit eine gewisse Leere breitmacht. Der Plan ist aufgegangen, aber es gibt keinen weiteren Punkt, der noch erreicht werden muss. Dieser Moment währt aber nur kurz – ich grinse und lasse im Geist den WHW noch einmal in Bildern an mir vorbeiziehen: Drymen, Conic Hill, Cashel Farm, Inversnaid, Crianlarich, Glencoe Mountain Resort, Devil´s Staircase, Kinlochleven und eben Ben Nevis, zu dessen Fuß ich die letzte Nacht verbringe. Mein Bus am nächsten Tag passiert einige dieser Punkte, ich sehe Wanderer auf dem Weg und denke: Ich bin all diese 96 Meilen selbst gegangen und kann nachfühlen, wie es euch gerade an diesem Punkt des WHW geht. Geschenkt wurde einem der WHW nicht, aber jeder Schritt war es wert, denn es wurden einem so viele unvergessliche Eindrücke geschenkt. Danke, ihr Highlands – ich komme wieder!

Die Schottischen Highlands geben sich von ihrer schönsten Seite. Foto: Colin Fischer

Über den Autor:

Colin Fischer, 1971 in Stuttgart geboren, verbringt schon sein halbes Leben in Franken, wo er DAV-Mitglied beim Bergbund Würzburg ist. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, einen Hund und eine Katze. Er ist gerne draußen unterwegs – ob auf dem Bike oder in den Bergen, ob Tagestrip oder mehrtägig im Zelt oder von Hütte zu Hütte. Das ist für ihn der perfekte Ausgleich zum PC-Job.

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